2020-07-29

Simworld

Prolog


»Wohin all diese Menschen verschwunden sind, ist bisher noch unklar. Außerdem sind mehrere Fälle von …«, hörte Tobias den Nachrichtensprecher sagen.
Da klingelte es.  Das musste Sinan sein. Tobias war schon ungeduldig geworden, denn Sinan verspätete sich bereits um zwanzig Minuten. Er und sein türkischstämmiger Freund, beide sechzehn Jahre alt, teilten dieselbe Leidenschaft: Videospiele – genauer gesagt Ego-Shooter und jegliche Art von Simulations-Games.
Tobias zockte nun schon seit etlichen Wochen das neue Trendspiel Simworld, welches eine absolut detailgenaue Welt generiert, in welcher man den Protagonisten lediglich dadurch beeinflussen kann, indem man in diesem gewisse Grundstimmungen erzeugt, den Nebenfiguren Aktionsbefehle gibt sowie Veränderungen der Umgebung vornimmt, die für die Spielfigur entweder physische oder psychische Fährnisse darstellen – oft ergeben sich auch Kombinationen von beiden Möglichkeiten. Zum Beispiel wird ein Supermarkt geschlossen, wodurch die Computerfigur gezwungen wird, sich einen neuen Lieblingsmarkt zu suchen; ein wichtiges Familienmitglied stirbt, wodurch dann eine seelische Krise der Figur simuliert wird; der Verlust des Jobs, der eben jene genannte physische und gleichzeitig psychische Herausforderung an den Helden stellt. Dabei legt der Spieler zu Beginn fest, wie die Welt seiner Figur beschaffen sein und nach welchen Regeln sie funktionieren soll. Das Neue und Bahnbrechende an Simworld war, im Gegensatz zu seinen vielen Vorgängern, die unglaubliche Komplexität und der dadurch schier undenkbaren Realitätsnähe. Egal wie viele sich daran versuchten, unter gleichen Bedingungen zu starten und später exakt dieselben Spielzüge vorzunehmen, nie verlief das Spiel gleich. Diese Unberechenbarkeit und die Möglichkeit die Spielwelten im Internet zu vernetzen, um damit Kontakte zwischen verschiedenen Simworlds zu ermöglichen, ja damit einen eigenen Kosmos zu schaffen, machte seinen Reiz aus – nicht zu vergessen, der Reiz, völlig in einem Parallelleben aufzugehen, wo man dennoch nicht real beteiligt, sondern eher ein heimlicher Voyeur ist.
Tobias öffnete seinem Freund die Tür, der mit einem Lächeln eintrat.
»Eh, Alder, was geht?« grüßte Sinan knapp.
»Endlich«, entgegnete Tobias ungeduldig, »ich wollte schon ohne dich anfangen. Wieso hat das so lange gedauert?«
Der hochgewachsene, schlaksige Sinan zuckte entschuldigend die Achseln. »Sorry, aber meine Schwester hat mich voll gestresst. Ich musste ihr noch bei den Hausaufgaben helfen, sonst hätte meine Mutter mich nicht weggelassen.
Aber was gehst du so ab, waren doch nur zwanzig Minuten.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich dir unbedingt was zeigen muss«, gab Tobias zurück, worauf seine angedeuteten Pausbäckchen rot anliefen – wohl um einen Kontrast zu seinen strohblonden Haaren zu liefern. »Komm mit in mein Zimmer, hab das Spiel schon eingelegt.«
Sinan folgte seinem Freund in dessen Zimmer, wo beide sich unmittelbar vor den Monitor setzten. Als Sinan eine Weile das Geschehen beobachtet hatte, sagte er: »Was hast du gemacht, Alder? Das sieht ja alles voll komisch aus. Wo sind die ganzen Leute?«
»Das ist es ja«, brach die angestaute freudige Ungeduld des pausbäckigen Jungen hervor, »es gibt keine mehr. Ich habe den Cheat von Alex bekommen, wodurch sich alle Personen außer meiner Spielfigur nach und nach deaktivieren. Das ist echt abgefahren, wie das dann abgeht. Voll der Psychothriller, sag ich dir.«
Erschrocken fuhr Sinan zusammen. »Den Cheat von Alex? Doch nicht den, wo schon der Merzbach benutzt hat? Eh, weißt du denn nicht, was mit dem passiert ist? Was glaubst du, warum der und seine Schwester nicht mehr in die Schule kommen?!
Die Franzi ist mit seiner Schwester befreundet, und die hat mir erzählt, dem Frank seine Schwester ist jetzt in der Klapse, weil die gesehen hat, wie da was aus dem Bildschirm gestiegen ist. Danach hat das Ding den Frank angefasst und der hat sich dann voll so aufgelöst und war verschwunden, einfach weg. Die Schwester hat dann nur noch geschrieen und ist weggerannt. Dann hat die noch gesagt, das Ding wäre aus der Wohnung rausgegangen.
Seitdem ist der Frank nicht mehr aufgetaucht und die Schwester ist voll so durchgedreht. Außerdem hab ich gehört, überall auf der Welt soll das schon passiert sein. Die Leute verschwinden einfach und keiner weiß wohin.«
»Du glaubst doch den Scheiß nicht etwa, Sinan.« Tobias schüttelte den Kopf und lachte auf. »Hab auch gerade wieder in den Nachrichten von dem Verschwinden etlicher Leute gehört. Aber mal ehrlich, du guckst zu viele Horrorfilme, die Leute verschwinden doch nicht durch den Computer. Die Schwester ist einfach nur durchgedreht, weil dem Bruder wahrscheinlich irgendwas passiert ist, was sie anders nicht verarbeiten konnte. Oder glaubst du wirklich, da steigen Dinger aus dem PC und lassen Leute verschwinden? Ich spiele jedenfalls jetzt schon seit einer Woche mit dem Cheat und nix ist aus der Kiste gestiegen, um mich zu holen.«
»Vielleicht hast du recht, aber der Alex hat auch erzählt, als er den Cheat benutzt hat, wären da voll so unheimliche Sachen abgegangen. Er hat sich dann nicht mehr getraut damit weiterzuspielen«, gab der türkische Junge zu bedenken.
»Ach, Alex ist bloß ein Schisser. Der hat mir das auch erzählt, als ich den Cheat von ihm haben wollte. Natürlich passieren da komische Sachen im Spiel. Ist doch klar, wenn man plötzlich alle Personen löscht und die Figur sich dann zurechtfinden muss«, führte Tobias mit einer wegwerfenden Geste weiter aus. »Das Spiel ist einfach nur hammergeil gemacht. Hab dir doch gesagt, dass das dann wie ’n Psychothriller ist. Die Programmierer müssen da schwer getüftelt haben, um das so echt simulieren zu können.«
Noch während Sinan seinem Freund zuhörte wurde sein sonst gut gebräuntes Gesicht aschfahl. »Was geht da ab? Eh, guck doch!«
Tobias drehte den strohblonden Kopf Richtung Monitor, ließ noch ein Lächeln für seinen naiven türkischen Freund die Lippen umspielen, um sie gleich darauf staunend zu öffnen. Die Pausbäckchen blähten sich ob des kurzen, vor Schreck entweichenden Atems auf. »Das kann doch nicht … Was …?«
Vor den Augen der beiden Jungen materialisierte sich die Gestalt vor dem Monitor, die noch vor wenigen Sekunden auf ihm zu sehen war, und streckte die Hand nach Tobias aus …



1 Erwachen


Einmal mehr weckten mich die Strahlen der Morgensonne – 1:10 Uhr p. m. muss man für meine Verhältnisse als Morgen bezeichnen. Gähnend streckte ich mich und stand aus dem Bett auf. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte mir, während ich mich genüsslich am Hinterkopf kratzte, dass es ein herrlicher Sommertag draußen war. Seltsam nur, dass gar keine Autos unterwegs waren. Nun, das kratzte mich nicht weiter und so ging ich erst einmal unter die Dusche, um mir danach, frisch gesäubert, die erste Tasse Kaffee hinter die Binde zu kippen.
Während ich dies tat und dabei einen leeren, gedankenvollen Blick aus dem Küchenfenster warf, dachte ich mal wieder über mein momentanes Leben nach. Irgendwie lief wieder nichts richtig, dafür aber mächtig schief. Eine unschlagbare Kombination. Dass mich meine Frau verlassen hatte, war inzwischen kein Thema mehr für mich – ebenso wenig der Verlust meines damaligen Jobs –, doch dass mit Claire nun bereits die dritte Beziehung nach meiner Scheidung in die Brüche ging, sich meine ganzen so genannten Freunde vollkommen von mir distanziert hatten und es mit meiner Schreiberei ebenfalls nicht recht laufen wollte, machte mir langsam Sorgen. Um nicht zu sagen, eine gewisse selbstmitleidige Stimmung breitete sich aus. Warum bloß lief alles aus dem Ruder? Distanzierten sich meine Freunde etwa von mir, weil ich durch meinen erlangten Sozialstatus als armer Schlucker zu einer Art Mahnmal für sie geworden bin? Sozusagen deren fleischgewordene Urangst vor dem eigenen Versagen? Oder sind es diese banalen Gründe, dass man mit mir nicht schick Essen oder ins Theater gehen, eben nicht nach Waikiki fliegen kann, sondern auf das langweilige, nackte menschliche Beisammensein beschränkt ist? Ja, über was soll man auch schon mit einer Persona non grata reden? Ich meine, jemand wie ich ist schließlich nur noch darauf reduziert, ein armer Schlucker zu sein. Man spricht mit so jemandem darüber, wie beschissen doch seine Lage ist, oder gibt ihm Ratschläge, was er besser machen, wie er seinen Hintern hochkriegen kann. Ihm Ablenkung oder Oase sein, mit ihm über seine Interessen, sein sonstiges Leben reden? Nein. Das ist auf Dauer viel zu anstrengend, hat man doch immer im Hinterkopf, man müsse Anteilnahme an seiner Lebenssituation zeigen – was mindestens genauso anstrengend ist. Unter diesen Umständen kann ich gut verstehen, wieso man mich meidet.
Scheiße, dachte ich, der Kaffee schmeckt heute nicht. Darauf kippte ich den Rest in den Ausguss und schlurfte anschließend ins Wohnzimmer, da ich mich entschlossen hatte, meine soziologischen Studien bei einer der grässlichen Nachmittagstalkshows fortzusetzen.
Während dem Druck auf die Fernbedienung dachte ich daran, später noch einkaufen zu müssen, da ich inzwischen einige Tage das Haus nicht mehr verlassen hatte und meine Vorräte langsam zuneige gingen.
Was war da los? Nur Schnee auf der Mattscheibe. Egal welches Programm ich wählte, überall war nur Schnee zu sehen. Verdammt, erst hatten mich die Nachrichten der letzten Tage immer genervt und stets zum Einlegen einer DVD veranlasst, wegen der andauernden, panikartigen Berichte vom Verschwinden irgendwelcher Leute – als wäre das hier bei uns in den Staaten etwas Ungewöhnliches – und jetzt das. Ich probierte es noch eine Weile, gab mich jedoch dann geschlagen. Beim Versuch einen Radiosender rein zu bekommen, wollte sich ebenso wenig ein Erfolg einstellen.
Ich dachte mir, vielleicht gäbe es irgendwo eine massive Störung und entschied, lieber einkaufen zu gehen, anstatt meine Gedanken weiter mit einem Problem zu belasten, an dem ich ohnehin nichts ändern konnte. Also zog ich mir Schuhe an und verließ meine Wohnung – leicht verwundert, dass Mrs. Beagle nicht aufkreuzte, um die ausstehende Miete für den letzten Monat einzufordern. Im Grunde erleichtert darüber, betrat ich die Straße.
Ich wohne an dem Ende der Kent Street, das direkt in die Merrimac Street mündet,  die parallel zur River Front verläuft. Ein herrliches Eckchen, wo man linker Hand freien Blick auf den Merrimack River, welcher weiter westlich in den Atlantik mündet, inklusive der gegenüberliegenden Küste hat, wo Rings Island und Coffin Point liegen, und rechter Hand die wunderschönen Häuser der Stadt das Blickfeld zieren. Newburyport ist aufgrund seiner geschichtlichen Bedeutung und dem sanierten historischen Stadtzentrum ein regelrechter Touristenmagnet – wovon der Ort gut lebt. Hier gibt es noch Häuser georgianischer Architektur in Hülle und Fülle, die mit ihren Walmdächern, den Farben und der eleganten Schlichtheit eine Freude für das Auge darstellen. Nicht zu vergessen, die Sehenswürdigkeiten, wie das Cushing House Museum, Coffin House oder Lowell’s Boat Shop. Kein Wunder also, dass sich in unsere kleine Stadt so gerne Touristen verirrten.
Doch was war heute los? Ich wunderte mich vorhin noch darüber, keine Autos auf der Straße zu sehen; was ich jetzt aber sah, ließ mir den Atem stocken: kein Mensch war weit und breit zu sehen, wohin ich auch blickte. Verdammt, erst der fehlende Fernseh- und Radioempfang und jetzt das, schoss es mir durch den Kopf.
In leichtem Trab lief ich zunächst die Merrimac Street an der River Front  entlang, dann Richtung Stadtzentrum. Noch immer keine Menschenseele in Sicht. Auch das Leben auf dem Merrimack River schien eingeschlafen; kein fahrendes Boot zierte das Blau des Wassers, alle lagen vor Anker. Ich erreichte die Winter Street, die nach rechts zum Brown Square führt. Wenigstens hier hoffte ich, Menschen anzutreffen. Vielleicht wusste ja irgendjemand, was geschehen war. Jedoch fand ich auch dort, zu meiner Enttäuschung und langsam wachsendem Entsetzen, alles verlassen vor.
Trotz meiner mangelnden körperlichen Fitness setzte ich meinen Trab fort. Ich lief zur Bartlett Mall, weiter bis ans Ende der Chestnut Street und über die Water Street an der Küste entlang wieder zurück zum Stadtzentrum. Diesmal nahm ich den Weg über den Market Square, wo ringsum die sanierten georgianischen Häuser standen, die aus kleinen, dunkelroten Backsteinen gebaut waren. Die flachen, aus unzähligen grauen Steinen bestehenden Bürgersteige und die Straßen, deren in verschiedenen hellroten und grauen Farbtönen gehaltene Steine ein Mosaikmuster bildeten, riefen für mich, mit den altmodischen Straßenlaternen des 18. Jahrhunderts, einmal mehr das malerische Bild einer anderen Zeit wach. Doch nirgendwo fand ich auch nur einen Menschen. Die in mir aufgekommene Panik veranlasste mich, noch weiter in der anderen Hälfte von Newburyport zu suchen – die Hälfte, in der ich wohnte. Ich lief also weiter, wieder die Merrimac Street entlang Richtung Cashman Park.
Im Cashman Park sah eigentlich alles aus wie immer – grüne gepflegte Rasen und bunte, wohlriechende Blumenbeete, voll im Saft stehende Bäume … Würden nur nicht die Menschen fehlen. Also auch hier Fehlanzeige. Da ich inzwischen völlig durchgeschwitzt und ausgepowert war, beschloss ich, mich auf einer Parkbank erst einmal etwas zu erholen. So zur Ruhe gekommen, achtete ich erstmals auf andere Dinge in meiner Umgebung. Vögel. Ich hörte den Gesang von Vögeln. Wenigstens eine Art von Lebenszeichen in dieser verdammten Stadt. Sogleich ließ ich meinen Blick über den Rasen und die Bäume schweifen. Und tatsächlich, da gab es noch Bienen, Ameisen und ein Eichhörnchen zu sehen. Eigentlich so, wie es sich für einen normalen Sommertag gehört – nur eben ohne andere Menschen.
Während ich so wieder die ersten klaren Gedanken fasste, kam mir in den Sinn, dass es wenig bringen würde, jede einzelne Straße von Newburyport entlang zu hetzen. Ich sollte vielmehr nach Hause gehen und versuchen, über das Telefon jemanden von außerhalb zu erreichen. Möglicherweise ist dort ja bekannt, was hier passiert ist.
Dies gedacht, machte ich mich auf den Weg nach Hause.

Nichts. Wieder nichts. Das Telefon war tot. Lag hier etwa auch eine Störung vor? Verzweifelt drückte ich immer wieder auf die Telefongabel. Nichts. Wieso funktionierte kein Fernseher, Radio oder Telefon, wo doch aber offensichtlich mit der Elektrizität alles in Ordnung war? Ich hatte keine Erklärung.
Während ich in gierigen Schlucken ein Glas Wasser leerte, überlegte ich, was ich jetzt tun sollte. Im Grunde war es klar, ich musste die Stadt genauer durchkämmen. Vielleicht gab es irgendwo doch noch jemanden außer mir oder wenigstens einen Hinweis, was hier geschehen war.
Es war bereits später Nachmittag. Meine Gedanken kreisten darum, ob ich auf der Stelle meinen Rucksack mit einigen notwendigen Utensilien packen oder ob ich damit besser bis morgen warten sollte. Die Vorstellung mich in dieser gottverlassenen Stadt einfach seelenruhig schlafen zu legen, ohne die geringste Ahnung zu haben, was hier vorging, jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Also fing ich an, meinen Rucksack zu packen.



2 Suche


Mit meinem Rucksack auf dem Rücken – worin ich etwas Wasser, ein paar belegte Brote, Zange, Hammer, Taschenlampe sowie meine 38er mit einem Ersatzmagazin, einen frischen Satz Kleidung und einen Schlafsack eingepackt hatte (schließlich wusste ich nicht, was auf mich zukommen würde und wollte gewappnet sein) – erreichte ich die High Street. Seit viereinhalb Stunden war ich nun schon unterwegs, hatte alle nur erdenklichen wichtigen Punkte von Newburyport abgeklappert – ohne Erfolg. Seien es die Kirche, die Masonic Hall, das Firehouse, die Sehenswürdigkeiten oder der Hafen gewesen, nirgendwo war auch nur ein Mensch oder Hinweis zu finden. Und nirgendwo funktionierten die Telefone, das Fernsehen oder Radio. Es schien wie verhext. Ich war sogar in mehrere Geschäfte eingebrochen, durch Fenster gestiegen, hatte Türen eingetreten, die Wohnungen der Leute durchsucht … alles ergebnislos.
Mein Glück war, dass der Sommer die Tage länger machte, doch die Dämmerung brach nun unweigerlich über Newburyport herein. Aber ich wollte auf keinen Fall jetzt schon aufgeben.
Zuerst durchsuchte ich, ohne Ergebnis, das Newburyport Bed & Breakfast in der High Street – ein wunderschöner georgianischer Holzbau, von der Art, wie es sie nur bei uns in den Staaten gibt – um es in einem nicht minder beeindruckenden kleinen Herrenhaus, etwa hundertachtzig Fuß weiter die High Street herauf, zu versuchen. Dieses lud durch eine kleine, zentrale Veranda mit Treppenaufsatz, geziert von drei runden, klassischen Säulen und einer flachen Überdachung, zum Eintreten ein. Die Veranda – inklusive der Säulen, dem Aufsatz von Treppe und Keller sowie allen Randleisten des Hauses – erstrahlte in sauberem Weiß. Alle anderen Holzlatten waren in hellem Blau gehalten. Allein die Abgrenzung zum Dachstuhl war in einem dunklen Blau gestrichen und reichte als dicke Trennlinie um das ganze Gebäude herum. Auf beiden Seiten der Hausfront gab es je einen trapezförmigen Erker, der vom Erdgeschoss bis in den ersten Stock reichte und pro Stockwerk, rechts und links an jeder der drei sichtbaren Trapezseiten, ein großes Fenster besaß. Über dem Dach der Veranda rundeten noch zwei kleine Fenster den schnuckeligen Anblick ab. Die Häuser in unserem Städtchen machten schon was her. Kein Wunder, dass die Hotels hier immer Gäste beherbergten.
Mit diesen Eindrücken und Gedanken betrat ich das Haus. Die Leere und Stille der Eingangshalle entmutigte mich bereits zu Beginn meiner Hausdurchsuchung. Zu viele Misserfolge hatte ich heute schon verbuchen müssen.
Doch dann hörte ich plötzlich ein Geräusch. Ein Stöhnen drang aus dem ersten Stock an mein Ohr. Es klang menschlich. Ohne lange zu zögern, rannte ich die Treppe hinauf. Oben angekommen rief ich: »Hallo! Hallo, ist hier jemand?«
Wieder dieses Stöhnen.
Ich ging mit brennender Taschenlampe und gezückter 38er den Flur entlang. »Hallo? So antworten Sie doch!«
Dieses Mal ertönte ein Schaben – wie wenn jemand mit dem Fuß über einen Holzboden reibt. Es schien aus dem Zimmer am Ende des Flures zu kommen. Ich schritt langsam und vorsichtig weiter voran. Als mir eine Schweißperle von der Schläfe über meine rechte Wange lief, bemerkte ich zum ersten Mal mein starkes Herzklopfen. Ich hatte eine Scheißangst. Wenn man den ganzen Tag in einer Geisterstadt herumläuft und dann zu Beginn der Nacht wider Erwarten bemerkt, dass man nicht ganz alleine ist, beängstigt es einen mehr anstatt zu beruhigen – zumal auf mein Rufen keine erkennbare Antwort kam.
Ein gewisses Glücksgefühl kam auf, als der Strahl meiner Taschenlampe auf einen Lichtschalter traf. Nachdem ich diesen betätigt hatte, erhellte die Deckenlampe den Flur. Die Wände waren hellblau und mit ein paar Landschaftsbildern geschmückt, während der Boden blanke, aber sehr gut gepflegte Holzdielen offenbarte.
Endlich langte ich an der Tür an. Sie stand einen Spalt offen, was durchblicken ließ, dass der Raum, aus dem just in diesem Moment erneut das Stöhnen ertönte, im Dunkeln lag.
»Hallo?« rief ich unsicher und verharrte zunächst vor der Tür. Wieder keine Antwort.
In der Rechten hielt ich meine 38er von mir weg, wie man es in Filmen sieht – in der Linken die Taschenlampe, mit der ich die Tür aufstieß. Ich spürte, wie meine Halsschlagader pochte und mein Körper zu zittern begann.
»Aaa-ah …«, scholl es aus der linken Ecke des dunklen Zimmers.
Natürlich war damit zu rechnen, jedoch minderte das nicht im Geringsten den Schrecken, der mir in die Glieder fuhr. Sofort richtete ich den Strahl meiner Taschenlampe sowie den Pistolenlauf auf die Stelle, von wo das Geräusch gekommen war. Und tatsächlich lag dort jemand auf dem Fußboden. »Verdammt, warum antworten Sie nicht? Ich habe eine Waffe auf Sie gerichtet, also sagen Sie endlich etwas!«
Die Gestalt am Boden rührte sich. Sie schien den Kopf zu heben. »I-ich k-kann kaum … ich habe Schm-merzen«, antwortete eine männliche, aber junge Stimme. »B-bitte helfen …« Hier versagte ihm diese offenbar.
Ein wenig erleichtert steckte ich die 38er rasch zwischen Hosenbund und Rücken, richtete die Taschenlampe und meinen Blick aber weiter auf den Fremden. Hastig tastete ich mit der freien Hand rechts an der Zimmerwand nach einem Lichtschalter. Ich fand und betätigte ihn, worauf ich blitzschnell wieder die Waffe zückte, dafür die Taschenlampe sinken ließ.
Offenbar war der Raum ein Arbeitszimmer. Ein vielleicht fünfzehnjähriger Junge – schlank, blond und sportlich gebaut – lag neben einem edlen Mahagonischreibtisch auf einem nicht minder edlen, roten und mit kunstvollen Mustern versehenen Perserteppich. Kein Blut war zu sehen, dennoch wand sich der Junge wie unter Krämpfen.
Besorgt, die 38er aber noch im Anschlag, lief ich zu ihm und beugte mich leicht hinunter, um zu sehen, ob er nicht doch irgendwo eine Verletzung hatte. Es war nichts zu erkennen.
»Was ist los, Junge? Wer bist du? Und hast du eine Ahnung, was hier vorgeht, warum alle verschwunden sind?« fragte ich trotz meiner Anspannung in ruhigem Tonfall.
Der blonde Teenager presste sich plötzlich beide Hände an den Kopf und die Zähne zusammen – er schien tatsächlich irgendwelche schmerzhaften Krämpfe zu haben –, brachte dann aber hervor: »Sie dürfen s-sich … aah … n-nicht anf-fass-sen lassen … Verstehen Sie? Sie k-kommen aus d-dem Bildschirm … Das verfluchte Sp-spiel …«
Ich entschied, meine Waffe endgültig wegzustecken. Darauf ergriff ich den linken Arm des Jungen mit der einen und legte die andere Hand auf seine Stirn. »Ganz ruhig, Kleiner. Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Sag mir doch, was mit dir los ist. Und eins nach dem andern bitte. Mein Tag war schon verrückt genug.«
Er beruhigte sich etwas, obwohl er augenscheinlich noch Schmerzen hatte. »Es hat mich angefasst … kam einfach aus dem Bildschirm und hat mich angefasst … und dann wurde alles dunkel … das Spiel, es ist das Spiel … wenn man es mit dem Cheat …«, er brach wieder ab und schrie vor Schmerz auf.
»Was für ein Spiel? Ich verstehe nicht«, gab ich kopfschüttelnd zurück.
»Simworld«, zischte er, »dieses … verfluchte Simworld …das Ding berührte mich und … ich weiß nicht …es wurde dunkel … und … und jetzt bin ich …Wo bin ich hier? … Sie …ich …« Der Junge pfiff schmerzverzerrt die Luft durch die Zähne.
Da – auf einmal flimmerte er. Seine Erscheinung begann zu flackern, wurde immer wieder kurzzeitig transparent, sodass ich durch ihn hindurch das Muster des Perserteppichs erkennen konnte.
»Was zum …?« konnte ich nur sagen.
»Oh Gott«, schrie der Junge, »es zerreißt mich! Helfen sie mir! Bitte helfen sie mir doch! Was sind das nur für Schmerz …«
Und auf einmal löste er sich vor meinen Augen vollkommen auf. »Jungeee!« schrie ich. Doch es war zu spät.
Minutenlang starrte ich noch verstört auf die Stelle, wo kurz zuvor ein lebender, atmender Mensch gewesen war. Weder begriff ich, was vorgegangen noch was davon zu halten war. Wovon in Gottes Namen hatte er bloß geredet? Der einzige Mensch, der mir nach langem Suchen endlich begegnet, verschwindet gleich darauf wieder. Was für ein grausamer Scherz war das? »He, ich kann nicht darüber lachen«, hörte ich mich sagen.
Langsam fasste ich mich wieder und versuchte klarzukriegen, was ich als nächstes tun sollte. Da fielen mir die Nachrichten der letzen Tage ein. Vielleicht hätte ich doch nicht wegschalten, sondern mich verdammt nocheins dafür interessieren sollen, was in der Welt vorging. Eine Zeitung – irgendwo musste doch eine Zeitung aufzutreiben sein. Sicher haben sie da auch von dem Verschwinden der Leute berichtet.
Ich stand aus der Hocke auf und blickte mich im Arbeitszimmer um. Die Suche war von kurzer Dauer, denn auf dem Schreibtisch lag eine aufgeschlagene Tageszeitung. Schnell drehte ich sie um und blätterte auf die Titelseite. Ein weiterer Blitzerfolg. Dort stand zu lesen:

Die Experten sind ratlos. Überall auf der Welt verschwinden die Menschen. Sah es zunächst so aus, als würde sich das Phänomen allein auf die Vereinigten Staaten beschränken, erreichen uns nun von überall auf der Welt die Schreckensmeldungen. Das Beängstigende dabei ist, dass Augenzeugen aus allen Ländern unabhängig voneinander berichten, wie ihre Mitmenschen sich vor ihren Augen einfach auflösen und verschwinden. Auch gehen immer wieder Meldungen ein, dass sich plötzlich Personen an Orten manifestieren, die unter großen Schmerzen zu leiden scheinen und niemandem, der sie sieht, bekannt sind. Doch diese Menschen verschwinden kurz nach ihrem Erscheinen ebenso, weshalb eine Identifikation unmöglich ist.
Die Wissenschaftler aus allen Bereichen sind sich jedoch einig, dass es sich höchstwahrscheinlich um Personen handelt, die bereits vorher irgendwo verschwunden sind und sich dann in einem anderen Teil der Welt wieder kurzzeitig manifestieren
Was das Phänomen ausgelöst hat, und ob die Verschwundenen möglicherweise wieder dauerhaft in Erscheinung treten, kann bisher keiner sagen.
Die Welt steht vor einem Rätsel.

Hier hörte ich auf zu lesen. Es war so, als zöge man mir den Boden unter den Füßen weg. Da hatte ich Idiot glatt den Anfang vom Untergang der Menschheit verschlafen. Jetzt dachte ich, es könnte mitunter daran liegen, dass ich länger nichts von meinen Freunden gehört hatte. Und wenn schon Experten keinen Schimmer hatten was vorging, wie soll dann ich aus der Nummer wieder rauskommen?
Panische Todesangst breitete sich in mir aus – Angst vor dem Sein an sich, vor einem möglichen Gott, der das jüngste Gericht eingeleitet hat, Angst vor meinem ungewissen Schicksal.
Ich musste raus aus Newburyport. Raus und irgendwohin, wo es vielleicht noch andere Menschen gab. Wenn ich nur eine Seele träfe, mit der ich darüber reden könnte, die vielleicht mehr weiß … Um nichts in der Welt wollte ich alleine zugrunde gehen. Irgendwo musste noch jemand sein.



3 Flucht


Nachdem ich alles was mir brauchbar erschien aus dem Einkaufszentrum besorgt hatte, packte ich den Rucksack und die ’Einkäufe’ in den Kofferraum meines Civic. Wer hätte gedacht, dass ich mal an einem einzigen Tag so viele Einbrüche machen würde, wie manch einer im ganzen Leben nicht zustande bringt.
Es war mittlerweile zwei Uhr nachts und der Merrimack glitzerte im Mondlicht. Eigentlich ein herrlicher Anblick, aber heute wollte er mich nicht im Geringsten erfreuen. Ich dachte nur noch daran, hier herauszukommen. Die nächstgelegenen größeren Orte waren Georgetown und Rowley – zusammen mit Newburyport bildeten sie ein Dreieck. Zwar lag Georgetown am Ende der etwas längeren Dreieckachse, doch da Rowley näher an Ipswich lag, fasste ich den Entschluss, zuerst nach Georgetown zu fahren. Sollte nämlich weder in Georgetown noch in Rowley irgendjemand zu finden sein, bräuchte ich nicht lange hin und her fahren, um nach Ipswich zu kommen und könnte so alle drei Städte mit einem Rutsch nehmen.
Ich setzte mich in den Civic und fuhr los. Das sonst so märchenhafte Newburyport wirkte jetzt nur noch trostlos im Licht der Autoscheinwerfer. Nach einigen Minuten erreichte ich die Scotland Road, über die ich nach Georgetown fahren wollte. Endlich hatte ich Gelegenheit, in Ruhe etwas nachzudenken. Warum Telefone, Fernsehen und Radio nicht mehr funktionierten, war nun klar. Höchstwahrscheinlich war das Verschwinden der Menschen extrem schnell vonstatten gegangen, sodass inzwischen einfach niemand mehr da war, der diese Einrichtungen betreiben konnte. Der Strom hingegen wird, zumindest von den Atomkraftwerken, weitgehend automatisch geliefert. Doch wie lange würde das so bleiben? Und welche Gefahren mochten drohen, wo niemand mehr da war, der sich um die Wartung kümmerte? Ich wusste nicht, ob es Segen oder Fluch war, von diesen Dingen im Grunde so gut wie nichts zu wissen. Auf alle Fälle beunruhigte mich der Gedanke an die Zukunft sehr. Würde auch ich verschwinden? Wenn nicht, was würde aus mir werden? Ich musste einfach versuchen, andere Menschen zu finden – ich musste.
Vor mir tauchte plötzlich ein roter Pick up auf. Jedoch kein fahrender, sondern er stand da einfach mitten auf der Straße. Ich bremste und schaffte es gerade noch, das Lenkrad nach links herumzureißen und an dem Pick Up vorbeizuschrammen. Mein rechter Außenspiegel hatte sich dabei verabschiedet, und bestimmt gab es jetzt ein hübsches Muster im Lack. Wie schön wäre es, könnte ich deswegen Ärger oder Sorge empfinden. Wo war die Karre hergekommen? So quer wie sie auf der Straße gestanden hatte, sah es nicht so aus, als hätte der Fahrer ganz normal angehalten. Ich sollte wohl besser die Augen offen halten, wenn ich keinen Crash bauen wollte.
Und tatsächlich begegneten mir noch weitere solcher herrenlosen Fahrzeuge. Manche schienen sich überschlagen zu haben und lagen neben der Straße, andere standen so quer wie der Pick Up zuvor. Was war hier nur passiert?
Trotz allem hielt ich nirgendwo an, sondern setzte unbeirrt meinen Weg nach Georgetown fort.
Als ich nach fünfundzwanzig Minuten ankam, bot sich mir der befürchtete, aber nicht erhoffte Anblick. Auch in Georgetown war es offenbar nicht anders als in Newburyport. Dennoch fuhr ich die Straßen im Schritttempo entlang, immer wieder laut rufend und hupend. Keine Erwiderung, nirgendwo.
In einigen Wohnungen brannte Licht. Das hatte zwar rein gar nichts zu heißen, denn das war in meinem Heimatort ja nicht anders gewesen, aber ich wollte optimistisch an die Sache rangehen. Also hielt ich an, holte aus dem Kofferraum meine Taschenlampe, ein Brecheisen und die 38er mit einigen Ersatzmagazinen – ich hatte mir zur Sicherheit noch ein paar im Einkaufszentrum besorgt – und schickte mich an, wenigstens hin und wieder in ein paar Wohnungen nachzusehen, wenn ich dort Licht brennen sah.
So fuhr ich rufend und hupend durch den Ort, um es dann erneut in einigen Wohnungen zu versuchen.
Doch nachdem die Dämmerung längst hereingebrochen und es inzwischen sieben Uhr morgens war, gab ich entmutigt auf. Niemand war mehr hier. Also weiter nach Rowley …

In Rowley erging es mir nicht anders als in Georgetown. Ich war frustriert, fühlte mich hilflos und einsam – obwohl ich eigentlich gerade mal seit vierundzwanzig Stunden in dieser Lage umherirrte. Zwei Uhr nachmittags war es inzwischen geworden, und bisher hatte ich noch nicht geschlafen. Wie soll man in so einer Situation auch schlafen können?
Es half alles nichts. Mir blieb nur, weiter nach Ipswich zu fahren – wenn es sein musste, durch die ganzen Vereinigten Staaten. In meinem Tank war noch ausreichend Benzin für die Fahrt nach Ipswich; und sollte ich tatsächlich noch weiter fahren müssen, gab es genügend Tankstellen, die ich plündern konnte.
Auf dem Weg nach Ipswich fiel mir auf, dass hier gar keine liegengebliebenen Autos zu sehen waren. Ein gutes Zeichen? Vielleicht. Gleich würde ich es erfahren, denn Ipswich lag gerade mal dreieinhalb Meilen entfernt. Allerdings hatten mich die Ereignisse und die lange Wachseinphase ziemlich mitgenommen, sodass ich vom Sekundenschlaf überrascht wurde.
In dem Moment als ich den Kopf wieder hob, erschrak ich und trat instinktiv auf die Bremse. Alles war plötzlich dunkel. Überall Dunkelheit. Ich schaltete die Scheinwerfer ein. Nirgendwo wurde deren Licht reflektiert, sie schienen einfach in die Schwärze hinein. Aber es war doch erst Nachmittag …
Ich öffnete die Autotür, um auszusteigen. Schließlich wollte ich nicht einfach so in diese merkwürdige Dunkelheit hineinfahren. Doch was war das? Ich sah überhaupt keinen Boden, keine Straße – nur Schwärze.
Dieser Widerspruch zum gesunden Menschenverstand verursachte ähnliche Knoten im Gehirn wie einige der Ausführungen der Relativitätstheorie. Nun, mein Civic stand offenbar auf irgendetwas, also sollte auch ich das können. Vorsichtig setzte ich zuerst meinen linken, dann meinen rechten Fuß in die Dunkelheit, um mich dann komplett aus dem Fahrzeug zu wuchten.
Von festem Halt konnte man nicht reden, trotzdem konnte ich stehen. Es war mir vollkommen unerklärlich.
Ich hatte die Scheinwerfer angelassen und tastete mich zum Heck des Wagens. Dort öffnete ich den Kofferraum und griff nach der Taschenlampe, um die Pistole mit den Magazinen zu suchen. Nachdem ich alles gefunden hatte, lief ich in die Dunkelheit hinein. Einfach in irgendeine Richtung.
War das etwa die Art wie man verschwindet? Bin nun auch ich ausradiert? Ich war so konsterniert, dass ich nicht einmal mehr Angst oder Panik empfinden konnte.
Stumpf lief ich vorwärts.
Ich hatte keinerlei Zeitgefühl mehr und meine Uhr war auch stehengeblieben. Kein oben, kein unten, keine Zeit …Ich lief einfach im Nichts herum, bewaffnet mit einer Taschenlampe und einer 38er im Gürtel.
Wie lange ich schon gelaufen war, als ich plötzlich so etwas wie ein Licht in der Schwärze ausmachen konnte, weiß ich nicht. Ob es weit weg oder sich dicht vor mir befand, konnte ich ebenfalls nicht sagen, da mir hier jedwedes räumliche Gefühl fehlte. Nichtsdestotrotz begann ich zu rennen. Und in der Tat, der Lichtfleck wurde größer und nahm eine quadratische Form an. Ich schöpfte Hoffnung. Selbst wenn ich nun wieder in die menschenleere Welt gelangen würde, so wäre mir sogar das in meiner Lage ein Trost. Nur raus aus dieser dimensionslosen Dunkelheit.
Der Lichtpunkt schien jetzt direkt vor mir zu liegen. Anscheinend eine Art Fenster – ein Fenster mitten im schwarzen Nichts. Obwohl Licht hindurch schien, konnte man nicht sehen, was dahinter lag. Nur mein schwaches Spiegelbild blickte mich an. Ich weiß nicht, welcher Instinkt mich leitete, als ich meinen Arm ausstreckte, um mit meiner Hand das Fenster zu berühren. Ich kann nur sagen, dass meine Fingerspitzen nicht auf eine Scheibe trafen, sondern durch das Fenster hindurch glitten. Der gleiche Instinkt ließ die Taschenlampe aus meiner anderen Hand fallen und lenkte diese ebenfalls auf das Fenster zu. Beide Hände waren nicht mehr zu sehen. Ich schritt vorwärts, um meinen ganzen Körper durch dieses Fenster zu bewegen. Es klappte.
Ein Kribbeln durchflutete mich von den Zehen bis in die Haarspitzen. Zunächst konnte ich nichts sehen, doch dann kehrten die Sinne langsam zurück. Ich hielt meine Arme noch immer ausgestreckt vor mir. Erschrocken stellte ich fest, dass deren Umrisse zwar wie Arme, aber sie sonst wie der Schnee im Fernsehen aussahen. Zu meiner Erleichterung nahmen sie allmählich wieder ihr normales Aussehen an.
Endlich begann ich auch meine Umgebung wahrzunehmen.
Ich stand in einem Zimmer. Vor mir saßen zwei Jugendliche.
Menschen! Da waren Menschen. Doch aufgrund ihrer starren, entsetzt wirkenden Blicke und der absolut unbeweglichen Haltung, war ich zunächst skeptisch. Schließlich hatte ich so einiges an unerklärlichen Dingen hinter mich gebracht. Lebten sie? Waren sie real?
Ich wollte es herausfinden und streckte meine Hand nach dem strohblonden, pausbäckigen Jungen aus.



Epilog


»Papa, komm schnell her! Im Fernsehen bringen sie wieder was über die verschwunden Leute«, rief die dreizehnjährige Tamara.
Ihr Vater eilte herbei, setzte sich neben sie auf das Sofa und beide starrten gebannt auf den Plasmabildschirm.
Der Nachrichtensprecher sagte: »… konnte der sechszehnjährige Sinan nun auch vernommen werden.
Der unbekannte Fremde, der sich bei der Frankfurter Polizei als Jerry Sim und aus Newburyport, Neuengland stammend ausgab und darauf bestand, dass man ihn nicht berührte, löste sich am darauf folgenden Tag vor den Augen der Polizeibeamten einfach in Nichts auf. So wie es all die Beamten taten, die ihn trotz seiner Warnung angefasst hatten, und wie es, laut der Aussage des jungen Sinan, auch dessen Freund Tobias ergangen war …«


Ende

© Sascha Besier

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