Blog von Sascha Besier: Gedichte, Kurzgeschichten, Aphorismen, Bonmots und mehr. Ich freue mich über einen Kommentar.
2020-01-10
Vielleicht werden Sie mich, nachdem Sie meine Geschichte gelesen haben, für geistig verwirrt, für gänzlich wahnsinnig oder einfach schlicht für einen Lügner halten. Zu phantastisch, zu unglaublich und vielleicht sogar zu grauenvoll waren die Ereignisse, die mich bewogen haben, all das niederzuschreiben. Seitdem ich die Wahrheit kenne, schlafe ich nicht mehr und bin nur noch ein nervliches Wrack. Binnen vier Tagen ist aus mir, innerlich wie äußerlich, ein menschliches Zerrbild geworden, eine traurige Karikatur dessen, was ich einmal war. Doch ich möchte Ihnen alles von Anfang an erzählen, will Sie wissen lassen, was mir geschah; denn vielleicht wird mir dies morgen schon unmöglich sein.
Es war vor nunmehr acht Monaten, als Laura, die Frau meines besten Freundes Edgar, bei einem tragischen Unfall ums Leben kam. Edgar, mit dem mich vierundzwanzig Jahre tiefer Freundschaft verbanden, war von jeher ein starker und selbstbewusster Charakter, den viele, inklusive mir selber, ob seiner Fähigkeiten und Eigenschaften bewunderten – einige neideten ihm diese sogar. Stets trat er für andere ein, war von einer aufrechten und gradlinigen Natur, wie man sie in unseren Tagen nur noch selten findet. Bis zu jenem Tag – was mir aber erst später bewusst wurde –; denn Laura war für ihn, wie er es selbst immer gerne von Anbeginn ihrer Beziehung sagte, sein Ein und Alles, das Licht, der Grund seines Daseins, sein Trost für all die Rückschläge und Niederlagen, die er in seinen zahllosen Kämpfen, seinem Einsatz für Andere und alles, woran er glaubte, hatte hinnehmen müssen. Alle, die diese beiden zusammen kannten, waren überzeugt davon, Laura und Edgar seien das perfekte Paar, seien das, wonach sich jeder Mensch sehnt, das Glück, was sich jeder für sich selbst auch wünscht. Und ich persönlich war gleichwohl von dem Gedanken überzeugt, dass niemand anders eine Frau wie Laura verdiente, denn wie ich es bereits schon erwähnte, war Edgar dereinst ein einzigartiger, ungewöhnlicher Mensch. Sie können sich vorstellen, dass mich Lauras Tod damals fast genauso traf, wie Edgar selbst, da ich ja um ihre Bedeutung für ihn wusste, darum wusste, wie kein anderer.
In den ersten Tagen nach dem Unglück gab sich Edgar noch sehr gefasst, zeigte sich von seiner stets präsenten starken Seite. Er ließ nicht einmal unseren sonntäglichen Schachabend ausfallen. Allein sein stilles Verhalten an diesem Abend und dass er eine Partie verlor, zeugten von seinem wahren inneren Zustand. Da ich selbst viel zu unsortiert war, beließ ich es bei meiner ersten Beileidsbekundung, die er ohnehin abwinkte. Wir sprachen an dem Abend nur von unserem Berufsalltag. Edgar empfand schon von Jugend an große Begeisterung für Mythologie, weshalb er auch seine Studien dahingehend abgeschlossen und eine Anstellung an unserem Museum angenommen hatte. Dies brachte es mit sich, dass er etliche Reisen in die unterschiedlichsten Länder unternahm und seine Berichte aus dem Arbeitsleben manchmal wie Auszüge eines Abenteuerromans klangen. Heute jedoch sprachen wir fast ausschließlich über meinen eher normalen Büroalltag.
Später streifte Edgar dann doch noch geradezu beiläufig den Tod seiner Frau, um mir von den Beerdigungsvorbereitungen zu erzählen sowie den Termin für die Beisetzung zu nennen. Ich war mir damals absolut sicher, er sprach das Thema einzig aus diesem Grund an, hätte es ansonsten ganz vermieden.
Die Beherrschtheit der ersten Tage verflog dann sehr schnell – ganz besonders nach der Beerdigung. Edgars Seelenzustand trat nun deutlich zutage. Täglich rief er mich von zu Hause wie von der Arbeit aus an und erzählte mir, wie sehr er Laura vermisse, wie leer sein Leben ohne sie sei und wie sinnlos ihm all diese Vorgänge erschienen. Ich wunderte mich damals etwas über diese Formulierung. Doch ich führte sie auf Edgars Verlustschmerz und Verwirrung zurück und wünschte, ich hätte ihm mehr Trost sein können als ich es war. Nur zu gut konnte ich ihn verstehen. Doch war ich mir absolut sicher, ein Mann wie Edgar käme wieder auf die Beine. Er war von jeher eine Kämpfernatur, er gab sich nie mit Niederlagen zufrieden, sondern kehrte immer aus einem Rückzug mit neuer Bewaffnung und neuen Listen zurück. Dies bewunderten und neideten ihm schließlich so viele. Also versuchte ich ihm ein Freund zu sein, wie er mir und so vielen anderen stets ein Freund gewesen war, und auf ihn und seine Fähigkeiten zu vertrauen, ihm zuzuhören, meine eigene Sorge nicht zu zeigen, als ein starker Partner an seiner Seite. Jedoch war Edgar ein zu aufmerksamer Mensch, zu intelligent, als dass er dies nicht bemerkte. Er beteuerte mir in dieser Zeit oft seine Dankbarkeit, sagte mir, wie sehr er das zu schätzen wisse, da er sich ja schon immer äußerst ungern auf andere gestützt habe. Aber mir, als seinem besten Freund, würde er da voll und ganz vertrauen.
So verging der erste Monat.
Plötzlich jedoch hörte ich eine ganze Woche nichts mehr von Edgar. Ich machte mir große Sorgen, da er sich bisher so regelmäßig jeden Tag zumindest einmal telefonisch meldete. Mehrere Male rief ich ihn an, doch erreichte ihn nicht – nicht einmal im Museum. Ich beschloss, sollte ich bis zum nächsten Tag immer noch nichts von ihm gehört haben, auf seiner Arbeitsstelle vorstellig zu werden, um nachzusehen, ob mit ihm alles in Ordnung war. Just an diesem Abend rief mich mein Freund an. Er klang sehr seltsam, es schien ihm aber gut zu gehen, als er mir mitteilte, ich solle mir keine Sorgen machen, er wäre zur Zeit in einer Angelegenheit beschäftigt, über die er jetzt noch nicht reden könne, die er mit mir bei passenderer Gelegenheit besprechen würde. Womöglich könne er sich in den nächsten Wochen nur sporadisch bis gar nicht bei mir melden, aber ich würde bald alles verstehen.
So vergingen drei weitere Monate, in denen ich fast gar nichts mehr von meinem Freund hörte. Einmal nur schrieb er einen Brief, alles sei in Ordnung, er hätte eine wichtige Sache zu regeln und wieder, dass ich alles bald verstehen würde. Nun, dachte ich, sicher war Edgar wieder zu alter Kraft zurückgekehrt, wollte sich aber durch irgendeine Sache, in die er sich hineinsteigerte von Lauras Tod ablenken. Besser so, als daran zu verzweifeln, sagte ich zu mir. Anders hatte ich ihn auch gar nicht eingeschätzt. Also ließ ich mich gleichfalls wieder voll in mein Alltagsleben fallen und dachte so gut wie gar nicht mehr über Lauras Tod nach, sondern vertraute darauf, meinen Freund bald wiederzusehen und all das erzählt zu bekommen, was ihn in der letzten Zeit so zu beschäftigen schien.
In den drei Wochen, die es dauern sollte, bis ich jenen Brief von meinem Freund bekam, der mich in vollkommenen Schrecken versetzte und durch den mich eine Art seltsame Vorahnung beschlich, musste ich oft daran denken, was Edgar und ich gemeinsam alles erlebt, wie wir uns kennen gelernt und was wir in unseren Jugendtagen so alles angestellt hatten.
Schon von Anfang an war mein Freund die Stimme der Vernunft in unserer Freundschaft. Als wir uns kennen lernten – ich zählte dreizehn und er zwölf Lebensjahre –, war er bereits derartig beherrscht und verstandesmäßig diszipliniert, dass ich höchsten Respekt vor ihm hatte. In meinem bisherigen Leben zu der Zeit, ward mir stets die Rolle des Außenseiters zugedacht, der, den die anderen verlachten und auf dem sie herumtrampelten. Edgar hielt ebenfalls die Außenseiterolle inne; doch ihm schien das nie etwas auszumachen. Er hatte sich diese Rolle selbst gewählt, denn, wie er es schon damals sagte, er würde niemals mit dem Strom mitschwimmen wollen, sich dem Unrecht und der Gleichgültigkeit seiner Altersgenossen nicht anschließen. Und er ließ sich tatsächlich nicht beugen. Niemals verlor er, trotz allem, was sie ihm antaten, seine Liebe zu den Menschen und dem Leben. Es war mir unbegreiflich, wie er das anstellte, woher er diese Kraft bezog; und dafür bewunderte ich ihn. Nie wieder wollte ich von seiner Seite weichen. Ja, Edgars Außenseiterrolle war eine gänzlich andere als meine.
In meinem verzweifelten Ringen um seine Anerkennung, seine Freundschaft und auch, um den Respekt vor mir selbst nicht zu verlieren, log ich ihm die wildesten Geschichten von meinem bisher so erfüllten Leben vor. Log ihm vor, wie sehr mich die anderen bewunderten, wie die Mädchen mich umschwärmten und wie stark ich sei.
Zu meiner großen Verwunderung glaubte mir Edgar alles, was ich ihm erzählte. Aufmerksam lauschte er allem, was ich zu sagen hatte und nahm sich selbst zurück. Ja, er schien geradezu naiv und gutgläubig zu sein. Ein Mensch, der mit zwölf Jahren schon solch ausgeprägte Wert- und Charaktervorstellungen hatte, glaubte einfach vorbehaltlos jede Lüge, die ich ihm auftischte. Es war das Paradies für mich. Endlich hatte ich einen wahren Freund gefunden, jemanden für den ich nicht der Trottel, der Dummkopf und Feigling war, als den mich alle hinstellten. Hier war jemand, der sich wahrhaft für mich interessierte. Und je mehr ich meinen neuen Freund kennen lernte, umso mehr bemerkte ich, dass er sich selbst so diszipliniert hatte, als wolle er ein Heiliger werden. Immer mehr schämte ich mich für meine Lügen, schämte mich dafür, meinem besten Freund eine Rolle vorzuspielen. Es ärgerte mich ungemein, dass er mit seiner verdammten anständigen Verhaltensweise mein schlechtes Gewissen immer lauter werden ließ. Außerdem ärgerte es mich, mitanzusehen, wie er offensichtlich einfach alles ertrug, was ihm widerfuhr. Was man ihm auch antat, er nahm es hin, ohne zu murren. Niemals klagte Edgar darüber, wie das Leben ihm mitspielte, stets verstand er die anderen – wenn er auch deren Verhalten verurteilte.
Ein einziges Mal nur habe ich ihn zornig erlebt. Jemand, der ihn schon seit Jahren zu beugen versucht hatte, gab ihm während des Spiels bei einem Klassenausflug einen Schubs, so dass Edgar beinahe die Felsklippen hinunter gestürzt wäre. Als sowohl der Lehrer als auch sein Opponent lauthals über seinen Beinahsturz lachten, prügelte Edgar wie besessen auf seinen Mitschüler ein. Dafür bekam er einen Verweis und ebenso wurde ihm der Schulalltag der Folgejahre zur Hölle gemacht. Warum er dennoch seine Prinzipien hochgehalten hatte, war mir unbegreiflich, ließ meine Bewunderung für ihn aber nur noch stärker werden.
Dennoch erkannte ich, mein Freund litt unter der schweren Bürde, die er sich selbst auferlegt hatte; denn ansonsten wäre es wohl kaum zu diesem einen emotionalen Ausbruch gekommen. Das und der Ärger über mein schlechtes Gewissen, ließ mich kühn ihm gegenüber werden. Ich sagte ihm, er müsse sich wehren, dürfe seinen Mitmenschen nicht immer mit so viel Verständnis begegnen; auch ein Mensch wie er müsse ab und zu an sein eigenes Wohl denken. Und es geschah etwas, was mich mit heftigem Stolz erfüllte: Edgar hörte auf mich. Er setzte sich gegen seinen Vater zur Wehr, der ihn so oft drangsalierte, und begann nun seine festen Einsichten und Werte, die er seinen Mitmenschen entgegenbrachte, auch von ihnen einzufordern. Nun, das tat er im Grunde ja schon immer, der Unterschied war jedoch, dass er jetzt weniger Bürden auf sich nahm.
Für mich hatte das ebenfalls Konsequenzen. Mein Freund deckte nun jede einzelne meiner Lügen, die ich ihm jemals aufgetischt hatte, auf. Keine hatte er vergessen, und für jede forderte er mein Eingestehen. Dies war mir äußerst unangenehm, und schmerzvoll begriff ich, dass Edgar wohl doch weit weniger naiv war, als ich bisher dachte. Schnell wurde mir klar, ich war in allem durchschaut, mir blieb keine Wahl, außer alles einzugestehen. Und von nun an deckte Edgar jeden weiteren Versuch einer Lüge oder Übertreibung sofort auf. Doch nie versagte er mir nach meinen Geständnissen die Freundschaft, sondern versuchte mir im Gegenteil immer klarzumachen, ich sei sein Freund, so wie ich bin, ich hätte es nicht nötig, ihn zu beschwindeln, um mich größer zu machen.
Es dauerte viele Jahre, bis ich diese Lektion vollständig gelernt hatte. Viele Jahre, in denen die Liebe zu meinem Freund wuchs und wuchs. In diesen Jahren erlebten wir unglaublich viele Dinge, stellten so vieles an … Ich war dabei stets die Kraft, die für den Vorwärtstrieb sorgte, die in explosionsartigem Chaos aufging, während Edgar zwar mitzog, aber Einhalt gebot, wenn es nötig war, der die Kontrolle behielt. Auf diese Weise ergänzten wir uns vortrefflich. Auch das erkannte ich erst sehr viel später. In der Jugendzeit jedoch verlor ich nie das Gefühl, meinem Freund unterlegen zu sein.
An ein Jugenderlebnis nur erinnere ich mich, bei dem ich ganz freiwillig vernünftig gewesen bin. Es war, als Edgar und ich diese versteckte Höhle im Wald, hinter dem Wasserfall eines Baches, fanden. Nie werde ich vergessen, wie wir beide dort hineingekrochen sind und am Ende auf das Skelett eines Verstorbenen stießen. Da lagen noch ein seltsames Buch, ein Dolch und alte Glassplitter herum. Ganz besonders ist mir im Gedächtnis geblieben, welch seltsame Aura diesen Toten umgab. Edgar hingegen war äußerst fasziniert, konnte er doch hier ganz seinem archäologischen Trieb folgen. Zu meiner Erleichterung ließ sich Edgar auf mein Drängen hin davon überzeugen, die Höhle schleunigst wieder zu verlassen.
Zum Glück waren die meisten unserer Expeditionen für mich weit erfreulicher.
Als Edgar Laura kennen lernte, waren er und ich bereits vierzehn Jahre befreundet. Sie trafen sich bei jenem Ägyptenurlaub, wo Edgars frühere Freundin, Christine, verschollen geriet und nie wieder aufgetaucht ist. Mein Freund berichtete mir seltsamerweise so gut wie nichts darüber. Besonders nicht darüber, wie und warum Christine verschwand oder auf welche Weise Laura und er sich begegneten. Nur eines schien schnell klar, die beiden waren füreinander geschaffen. Laura war genau die Art von Frau, die das Herz meines Freundes auf die rechte Weise erreichte. Sie war bildschön und überaus intelligent. Wie auch Edgar war sie sehr belesen und kannte sich in vielerlei Mythologien hervorragend aus. Edgar erzählte mir oft, wie sehr er es zu schätzen wisse, eine Frau an seiner Seite zu haben, mit der er über all die Dinge reden könne, die ihn so leidenschaftlich beschäftigten. Laura sei wie ein Wunder, ein wahrer Schatz in vielerlei Hinsicht. Auch mir gegenüber verhielt sich Laura wie eine echte Freundin. Sie war überaus herzlich, freundlich und mir aufs äußerste wohlgesonnen. Das war mir natürlich eine besonders große Freude, bedeutete es doch, dass ich meinen besten Freund nicht völlig verlieren würde.
Die Jahre vergingen, in denen Edgar und Laura immer mehr zusammenwuchsen. Sie war wirklich genau die richtige Frau für ihn. Manchmal dachte ich zwar, es sei merkwürdig, dass Laura trotz ihrer Offenheit und Herzlichkeit stets ein Geheimnis zu umgeben schien, doch dachte ich nie wirklich intensiver darüber nach. Eigentlich zog mich dieses Geheimnis eher in ihren Bann, anstatt mich fernzuhalten. Laura war eine Frau von großer Anziehungskraft, in geistiger wie auch erotischer Hinsicht. Je mehr ich von ihr sah, umso mehr wurde mir klar, weshalb sie für Edgar so viel bedeutete.
Mir selbst war es in diesen Jahren vergönnt, eine Familie zu gründen. Ich liebte meine Frau sehr und war froh, endlich sesshaft geworden zu sein. Leider wollte es das Schicksal anders. Meine Frau verließ mich wegen eines anderen und nahm unsere Tochter mit sich. Dies war eine harte Zeit für mich, in der ich oft den Beistand meines Freundes und den von Laura suchte. Wieder bewiesen mir diese beiden, was sie für außergewöhnliche Menschen waren.
Über all diese Dinge dachte ich während der drei Wochen, die ich auf Edgars Brief warten musste, nach. Und es waren folgende Zeilen, die in mir furchtbare Schrecken und seltsame Vorahnungen verursachten:
Lieber Thomas,
verzeih die so späte Erklärung, die dazuhin auch noch so unglaublich sein wird. Ich bin nicht sicher, ob ich in der Lage bin, dir alles richtig zu erklären; zu vieles muss mir selbst erst noch klar werden. Sicher machst du dir schon zahllose Gedanken, oder aber du mutmaßt, ich lenke mich mit irgendeiner Sache von Lauras Tod ab. Wie auch immer, ich will versuchen, hiermit die Schritte einer wahnwitzig klingenden Erklärung zu wagen.
Damit du sämtliche Entwicklungen verstehst und nicht alles in einem Wirrwarr von aufgeworfenen Fragen untergeht, beginne ich am Anfang, beginne damit, wie ich Laura kennen lernte. Niemals habe ich dir bisher diese Geschichte erzählt – und das aus gutem Grund. Doch nun komme ich nicht umhin, da du mir wohl sonst wenig Glauben schenken, sondern zu der Einsicht gelangen wirst, dein Freund hätte seinen Verstand verloren – die Tatsache den Verstand verloren zu haben, wäre hier sogar die wünschenswerte Alternative.
Vor etwas mehr als zehn Jahren besuchten meine damalige Freundin Christine (wie du dich ja sicher noch erinnerst) und ich Ägypten. Du weißt, wie fasziniert ich seit jeher von alten Mythen und allem bin, was mit ihnen zusammenhängt, wie sehr ich schon immer die Pyramiden und all ihre Geheimnisse selbst ergründen wollte. Christine sträubte sich anfangs gegen die Reise, wollte lieber einen angenehmen Urlaub in Südfrankreich, anstatt eines meiner verrückten Abenteuer, ohne Luxus und mit mehr Arbeit als Entspannung, mitzuerleben. Dennoch war es mir möglich, sie zu überzeugen, indem ich den Kompromiss schloss, wenn ich alles für mich Wichtige erledigt hätte, wir die wunderschönen Badestrände Ägyptens besuchen würden. Damit schien sie einverstanden, also bekam ich meinen Willen.
Der eigentliche Grund, warum es mich dorthin zog, mag oberflächlich für dich klar sein. Kein Wunder, wenn du es nicht besser weißt, schließlich erzählte ich dir etliche meiner Geheimnisse nicht. Es war nicht nur mein Interesse für Mythen und Kulturen – es hing irgendwie damit zusammen, aber es steckte mehr dahinter.
Erinnerst du dich daran, wie wir beide als Kinder die Höhle im Wald entdeckten? Die Höhle, in der wir das Skelett eines Menschen – ohne Zweifel ein Mann, der Größe und den Überresten der Kleidung nach zu urteilen – mit seltsam geformtem Schädel fanden? Wir fragten uns, auf welche Weise dieser ausgewachsene Mann es wohl geschafft haben mochte, in die Höhle zu gelangen, in die wir beide schon schwer hineinkamen. Und erinnerst du dich noch an die seltsamen Gegenstände, die bei den Gebeinen lagen? Es waren ein bläulicher Kristall zu einer Klinge geformt, der auf einem Metallgriff mit arkanen Symbolen steckte – und der offenbar in die Brust gestoßen wurde –, ein verrottetes, vergilbtes Kompendium, auf dessen Umschlag man nur noch diverse Hieroglyphen erkennen konnte und eine zerbrochene kegelförmige Phiole. Du hattest dich damals sehr gefürchtet, denn ohne Frage umgab den Ort und die toten Gebeine eine unheimliche Aura, weshalb wir nach nur kurzem Aufenthalt die Höhle schnell wieder verließen. Ich allerdings kehrte tags darauf alleine zurück – was ich dir bis heute verschwiegen habe –, um alles genauer zu untersuchen und nahm sämtliche Gegenstände sowie den merkwürdig geformten Schädel mit.
In all den Jahren, die auf dieses Erlebnis folgten, während denen ich mich mit Mythologie beschäftigte, suchte ich stets nach Hinweisen, die die Herkunft der Symbole auf der Kristallklinge und auf dem Umschlag des Kompendiums erklärten.
Schließlich wurde ich fündig. In den verschiedensten Kulturen tauchten Legenden über Unsterbliche auf; Fresken und andere Wandmalereien wie auch Reliefs, die von unbekannten Wesen oder Mächten zeugten, die der frühen Menschheit den Weg wiesen. Egal, ob bei den Babyloniern, Summerern, Ägyptern, Pikten oder auch den Völkern Südamerikas, wie den Azteken, Inkas oder Mayas – überall fand ich gewisse Gemeinsamkeiten. Es wäre zuviel, hierauf noch genauer einzugehen, als ich es ohnehin getan habe; ich versuche, mich auf das Wesentliche zu beschränken.
Meine Nachforschungen brachten unseren damaligen Fund in direkten Zusammenhang mit einem ziemlich unbekannten Mythos über den Pharao Echnaton – unbekannt, weil in seriösen Wissenschaftlerkreisen sehr umstritten. Doch auf diesen möchte ich an anderer Stelle eingehen, deshalb die unumstrittenen Fakten vorab: Echnaton war der Pharao, der sich dem zu seiner Zeit mächtigen Amun-Kult entgegenstellte und an dessen Stelle den Aton-Kult aufbaute. Nofretete, seine Gattin, spielte in diesem Kult eine gewichtige Rolle, denn jeder Pharao bedurfte einer großen königlichen Gemahlin, weil nur so die Maat, die große göttliche Ordnung, gewahrt blieb. Ägyptologen streiten darum, ob der Aton-Kult die erste Form des Monotheismus war. Ein geschickter Staatsstreich jedenfalls, erhob er doch, durch die enge Verbindung der Pharao-Familie mit dem Gott Aton, Echnaton gleichzeitig zum Priesterkönig und schüttelte so die vormals lästigen Priester des Amun-Kultes ab, die stets mit Pharao um die Vorherrschaft kämpften. Durch Krankheit und Schicksalsschläge kamen jedoch verschiedene Familienmitglieder, darunter auch Nofretete, ums Leben, was laut der Aton-Theologie nie hätte passieren dürfen. So schwand Pharaos Macht immer mehr, bis er schließlich selbst verstarb. Es gibt viele Hinweise darauf, dass sowohl seine Gattin Nofretete als auch er von politischen Gegnern ermordet wurden. Heute weiß ich, dass die Todesfälle etwas andere Ursachen hatten.
Aber ich möchte nicht allzu ausschweifend werden, doch musst du diesen kleinen Teil wissen, um den Rest verstehen zu können.
Jedenfalls fand ich, durch die von uns gefundenen Gegenstände, etliche Hinweise über jenen eher unbekannten Kult, der mich auch zu Echnaton und Nofretete führte und den die beiden hinter dem Aton-Kult verbargen. Dieser Kult ist in abgewandelter, geheimer Form in den verschiedensten Kulturen, wie ich es bereits sagte, zu finden und ein schreckliches Geheimnis scheint ihn zu umgeben. Es hat irgendetwas mit Unsterblichkeit zu tun; und genau dem wollte ich mit meinem Ägyptenbesuch auf die Spur kommen. Ich wusste, wie ich in die geheimen unterirdischen Gänge der durch Ramses II. abgetragenen Stadt Achet-Aton – wo das heutige Tell-el-Armana steht – gelangen konnte, in der Hoffnung, dort endlich dem Geheimnis unseres Fundes auf die letzte Schliche zu kommen.
Um den angefangenen Faden wiederaufzunehmen:
Nun reisten Christine und ich also zum besagten Tell-el-Armana. Nach den von mir entschlüsselten Angaben aus dem Kompendium des von uns entdeckten, verstorbenen Kameraden, wusste ich also, wo ich nach dem Zugang des geheimen Tunnelsystems von Achet-Aton suchen musste und auch, wie ich hineingelangen konnte. Es war mir unmöglich, Christine zu überreden, alleine im Hotelzimmer zu warten oder selbstständig durch Tell-el-Armana zu bummeln. Sie wollte mich unbedingt begleiten, was ich dann letztlich auch nicht als allzu großes Dilemma wertete. Schließlich würde sie die Funde, die ich zu bergen erwartete, nicht verstehen. Somit beging ich jenen folgenschweren Fehler, der mir bis heute noch bleiern auf meinem Gewissen lastet: ich nahm Christine mit in die Tunnel.
Du weißt sicher noch, dass sie nie wieder aus Ägypten zurückkehrte. Und genau das ist der Grund, weshalb ich nie wirklich über die Ereignisse von damals gesprochen habe, hängen sie doch unmittelbar mit dem Kennenlernen von Laura und mir zusammen. Heute jedoch möchte ich mein Schweigen endlich brechen.
Christine und ich betraten also, mit Taschenlampen und Rucksäcken bewaffnet, die versteckten unterirdischen Gewölbe Achet-Atons. Es roch muffig und stumpf nach dem Verfall durch die Jahrhunderte. Hier war seit der Zeit vor Echnatons Tod wohl niemals wieder jemand gewesen. Dieses Geheimnis nahm Pharao mit in sein Grab. Wir mussten uns, trotz des Scheins unserer Taschenlampen, äußerst vorsichtig vorantasten, da etliche Mengen an Geröll umgestürzter Säulen sowie einiger eingestürzter Mauern herumlagen; stets hatte man das Gefühl, jeden Moment könnte alles um einen herum zusammenfallen.
Christine schien mir ungewöhnlich gefasst für ein derartig gefährliches Abenteuer; allem Anschein nach nahm sie gar nicht wahr, auf was sie sich mit dieser Expedition eingelassen hatte. Da ich ohnehin jedwede weitere Diskussion vermeiden, stattdessen lieber vorankommen wollte, sah ich es positiv und schritt kommentarlos weiter vorwärts.
Unser Weg führte uns vorbei an unzähligen Wandmalereien der Armana-Epoche. Besonders an ihnen war die Darstellung Pharaos im Gegensatz zu früheren Zeitaltern. Normalerweise wurden die Pharaonen immer alleine und keinesfalls so dargestellt, wie sie wirklich aussahen. Dies war im von Echnaton bestimmten Aton-Kult anders: nicht nur er allein, sondern die gesamte Familie Pharaos wurde nun dargestellt; alle merkwürdig hässlich und anscheinend entstellt. Dem Betrachter boten sich Bilder von eigenartig geschlechtslos anmutenden Wesen mit dicken Oberschenkeln, schlaffen Bäuchen, eingefallenen Brustkörben, langen Hälsen und schmalen Gesichtern mit dicken Lippen und Schlitzaugen. Ganz anders, als die sonst üblichen Darstellungen der alten Pharaonen in jugendlicher, heroischer Pose. Die Wissenschaft hat hierfür verschiedene Erklärungen. Einige behaupten, der Aton-Kult schrieb vor, Pharao und seine Familie hätten sich so zeigen müssen, wie sie wirklich aussahen, sie seien eben entstellt und hässlich gewesen; andere meinen, im alten Ägypten wäre es seit jeher Sitte gewesen, im Abbild des Herrschers die jeweiligen Tugenden der bevorzugten Gottheit auszudrücken – was Echnaton nicht anders gehandhabt hätte. Verlacht wird hingegen die Theorie, dies würde auf Außerirdische hinweisen, die das alte Ägypten besuchten.
Mir persönlich fiel besonders die Schädelform in den Darstellungen Echnatons und seiner Familie auf. Die Wissenschaft sagt hierzu, möglicherweise hätte die Pharao-Familie an dem Marfan-Syndrom gelitten, welche Deformierungen des Schädels hervorruft. Es existieren unzählige Theorien hierüber.
Ich jedoch wusste es, aus den von mir entschlüsselten Aufzeichnungen, besser. Die Wahrheit ist eine Mischung aus all diesen Theorien. Doch, mein lieber Thomas, möchte ich hier und an dieser Stelle noch nicht alles offenbaren. Wohl sollte ich besser mit den weiteren Ereignissen fortfahren.
Während Christine und ich immer weiter in die geheimen Gewölbe unter dem ehemaligen Achet-Aton vordrangen, hatte ich ständig das Gefühl, irgendetwas würde hin und wieder durch mich hindurchdringen; wie ein kalter Windstoß, der einem trotz der besten Winterkleidung durch Mark und Bein fährt. Auch Christine schien es so zu ergehen, denn sie wies immer öfter darauf hin, sie wolle so schnell wie möglich wieder an die Oberfläche. Doch mir lag nichts ferner, als jetzt aufzugeben, wo ich endlich diesem Rätsel auf die Spur kam, welches mich seit unserem gemeinsamen Fund beschäftigte.
Ich beruhigte sie, sagte ihr, in alten Grüften und Tunnelsystemen könne man schon mal ein mulmiges Gefühl bekommen – obwohl ich selbst ziemlich genau fühlte, dass weit mehr dahinter steckte. Schließlich bin ich durch meine Arbeit für das Museum schon in so einigen Ausgrabungsstätten, dunklen Gemäuern und dergleichen gewesen. Ich hatte Routine in solchen Dingen, mich konnte so leicht nichts aus der Ruhe bringen – und doch … hier war alles anders. Aber ich wollte nicht zurück. Ich wollte wissen, ob an den Aufzeichnungen des von uns geborgenen Toten etwas dran war und ging weiter.
Vor Christine und mir tauchte plötzlich ein Schacht auf. Beinahe wäre ich in ihn hinabgestürzt, da er für das Licht meiner Taschenlampe in einem ungünstigen Winkel gelegen hatte. Wir befanden uns in einer Sackgasse, wodurch uns keine andere Wahl blieb, wir mussten hinuntersteigen. Ich packte die entsprechende Ausrüstung aus dem Rucksack und schlug die Befestigungen für die Karabiner ins Gestein. Mir war nicht wohl dabei, Christine ebenfalls hier heruntersteigen zu lassen, doch sie wollte auf keinen Fall am oberen Ende des dunklen Schachtes von mir zurückgelassen werden. Ich sah ein, dass dies wohl wirklich nicht zumutbar für sie wäre; außerdem konnte man Christine durchaus solch eine Kletterpartie zutrauen, war sie doch um einiges sportlicher als ich selbst. Also befestigten wir die angebrachten Karabiner und uns selbst mit dem Seil und stiegen gemeinsam in den Schacht hinab. Ich spürte noch, wie das seltsame Kältegefühl, das sich wie ein fremder Geist durch und durch zog – dieses Gefühl, das ich bereits erwähnte – immer stärker wurde.
Da passierte es.
Ich verlor die Besinnung.
Als ich wieder zu mir kam, war um mich herum alles dunkel. Ich lag auf dem Rücken und mein Kopf wurde von meinem Rucksack gestützt, wohl um ihn angewinkelt zu halten. Ein feuchtes Tuch wischte über meine Stirn und allem Anschein nach war mir nichts weiter passiert. Beim Versuch mich aufzurichten, um zu sehen, ob wirklich alles in Ordnung sei, drückte mich eine Hand wieder auf den Rücken und eine fremde Frauenstimme sagte mir, ich solle ruhig liegen bleiben; sagte mir, ich sei abgestürzt, aber mir wäre sonst weiter nichts passiert. Diese fremde Stimme gehörte niemand anderem als Laura.
Sofort fragte ich, was mit Christine wäre, ob ihr ebenfalls nichts geschehen sei.
Doch Laura erwiderte, sie hätte nur mich gefunden.
Aufgeregt schnellte ich nun doch nach oben, ließ mich nicht mehr von Laura hindern. Während ich aufgebracht aufsprang, spürte ich schmerzvoll, wie sich jeder Knochen meines Körpers bemerkbar machte. Ich war wie von Sinnen vor Angst um Christine, schrie Laura an, die ich noch nicht einmal nach ihrem Namen gefragt hatte, sie solle mir sagen, was aus meiner Begleitung geworden wäre. Sofort und auf der Stelle solle sie mir Auskunft darüber geben.
Es war wohl kindisch von mir, so aufzubrausen; denn woher sollte eine Frau, die mich am Boden eines Schachtes in einem geheimen Gewölbe gefunden und mir bereits gesagt hatte, sie wisse nichts von meiner Begleitung, mir erklären können, was aus dieser geworden war. Dennoch gab ich dieser Emotion nach, war aufgebracht aus Angst um Christine.
Laura blieb vollkommen gefasst und erklärte mir ruhig, sie hätte wirklich nur mich in diesem Schacht gefunden, aber wohl anhand der Ausrüstung sowie dem Abseilgerät festgestellt, dass ich nicht alleine gewesen sein konnte und sich deshalb in der Umgebung umgesehen. Sie beteuerte mir, selbst auf ihr Rufen hin hätte sich niemand gemeldet.
Ich fasste mich wieder und hielt es für angebracht, sich erst einmal einander vorzustellen. Nachdem dies geschehen war, erzählte ich hastig, wie sich alles vom Betreten der unterirdischen Tunnel an, bis zu dem Zeitpunkt meines Erwachens zugetragen hatte. Meine Hoffnung hierbei war, Laura könne anhand der Erzählung irgendeine Schlussfolgerung über den Verbleib von Christine abgeben.
Diese Hoffnung zerschlug sich jedoch ziemlich schnell, als Laura mir klarmachte, sie hätte wirklich die ganze Gegend abgesucht und ausgiebig gerufen. Selbst etwaige Mumien hätten dabei erwachen müssen, scherzte sie vorsichtig, in dem Ansinnen, mich ein wenig aufzuheitern. Sicher würden wir meine Begleiterin irgendwo finden, meinte Laura. Möglicherweise sei sie doch am oberen Schachtende geblieben und warte dort. Durch einen Sturz könne es leicht zu Gedächtnisverlusten kommen, so dass ich eventuell ein letztes Gespräch nicht mehr in Erinnerung hätte, in dem Christine den Entschluss gefasst habe, doch dort oben auf mich zu warten.
Mein lieber Thomas, du weißt, dass ich Christine niemals wieder fand. Nur Laura und ich kehrten damals aus den Gewölben zurück. Es wäre wohl natürlich gewesen, Laura sofort zu fragen, was sie eigentlich dort unten gemacht hatte; aber durch den Verlust von Christine und der dadurch verursachten inneren Aufgewühltheit, sollte ich erst später auf diese Frage kommen.
Nämlich erst auf dem Weg nach Hause – als sich klar herausgestellt hatte, dass Christine verschwunden bleiben würde und ich Zeit fand, meine Gedanken und Gefühle zu ordnen – stellte ich Laura meine Fragen. Sie offenbarte mir, ebenfalls durch jahrelange Forschung und durch Aufzeichnungen, die seriöse Wissenschaftler nicht ernstnehmen, auf die geheimen Gewölbe der Stadt Echnatons und Nofretetes aufmerksam geworden zu sein. Wie auch ich, wollte sie das Geheimnis des Kultes der Unsterblichen enträtseln.
Ich war sofort fasziniert, traf ich doch noch nie eine Frau, die mich nicht augenblicklich aufgrund meiner Obsessionen zu einem kompletten Spinner oder verrückten Abenteurer abstempelte; nein, diese Frau folgte demselben Ruf und schien nicht nur körperlich von äußerst fremdartiger Attraktivität zu sein, auch in ihren Augen lag eine Intelligenz, deren Ausstrahlung etwas von der Erfahrung unzähliger Jahrhunderte hatte. Sie sprach meine Sprache, doch ihr Aussehen war eher orientalisch. Angedeutete Mandelaugen, rabenschwarzes, langes glattes Haar, hervorstehende Wangenknochen, sinnliche, doch nicht zu volle Lippen und ein merkwürdig ovales, zum Kinn hin schmäler werdendes Gesicht. Ihre Körpergröße war ebenfalls beachtlich, musste sie doch einen Meter achtzig betragen, da sie mir fast gleichkam. Schultern und Brustkorb waren von ungewöhnlich kräftiger Natur – daneben sähe mancher Mann schmal aus –, ohne jedoch ihre zarte Weiblichkeit einzubüßen, wozu ihre insgesamt stolze und majestätische Ausstrahlung ihr übriges tat. Es war mir unerklärlich, wie dies alles zusammenpasste, wie eine Frau so aufregend, so voll erotischer Anziehungskraft sein konnte, die aufgrund solcher Widersprüchlichkeiten offensichtlich nicht dem herkömmlichen Ideal entsprach. Sie war nicht einfach irgendeine Schönheit, die jede Art von Mann anziehend finden und die Schutz in seinen Armen suchen würde.
Aber du kanntest Laura und weißt, wie besonders sie in jeder Hinsicht war.
Sie verriet mir, sie wäre in meinem Heimatland aufgewachsen und spreche deshalb natürlich auch die Sprache. Ihr Vater sei Ägypter gewesen, woher ihr andersartiges Äußeres rührte und weshalb sie eine besondere Affinität zu dieser Kultur hätte.
Den Rest kennst Du ja im Grunde. Nach ein paar Monaten wurde mir klar, ich hatte mich in Laura verliebt. Obwohl ich mich noch immer für Christines Verschwinden verantwortlich fühlte, begriff ich, dass mir die Unterdrückung meiner Gefühle für Laura auch nicht weiterhelfen würde. So kam es also zu dem für dich bekannteren Teil. Doch nach allem, was du bisher gehört hast, dürfte dir klar sein, dass du selbst über diesen Teil noch nicht alles weißt.
Bevor ich aber damit fortfahre, muss ich dir zunächst noch einiges über den Aton-Kult erzählen.
Aton ist Herrscher über Himmel und Erde, sein Symbol ist die Sonnenscheibe, um die sich eine Schlange ringelt. Diese Schlange trägt das berühmte Henkelkreuz – das Ankh –, Hieroglyphenzeichen des Lebens. Aton war also nicht wie Re die Sonne selbst, sondern deren äußere Erscheinung. Doch er war auch weit mehr: Wenn Pharao starb, erhob sich seine unvergängliche Seele gen Himmel und vereinigte sich mit Aton, der Sonnenscheibe, um für alle Ewigkeit über der Erde zu leuchten.
Echnaton griff damit auf eine alte Tradition früherer Dynastien zurück, in denen Re, jene Personifizierung der Sonne, ägyptischer Staatsgott gewesen war. Die Pharaonen waren Sonnenkönige; und sie bauten nicht nur die Pyramiden als Totenhäuser, sondern errichteten auch Sonnentempel. Gleichwohl stützte er sich auf jene Traditionen, als er zunächst, in der alten Hauptstadt Theben, ebenfalls solche Tempel für Aton bauen ließ.
Tempel waren eine Sache, doch brauchte der Gott auch eine Heimat, so wie alle Götter des ägyptischen Olymps eine Heimat besaßen. Während seines vierten Regierungsjahres machte sich Echnaton auf die Suche und fand die perfekte Heimat für Aton. Nämlich in dem Gebiet des heutigen Tell-el-Armana. Er wählte dieses Gebiet, weil er dort die natürliche Form der Hieroglyphe Achet fand – zwei Hügel zwischen denen die Sonne aufgeht. Und so benannte er die Stadt und Heimat seines Staatsgottes mit Achet-Aton, was Lichtort des Aton bedeutet.
Amun, der »Verborgene«, hingegen symbolisierte den Schatten. Seine Heimat war in einem Sanktuar in Karnak, welches ausschließlich Pharao und einigen ausgewählten Priestern zugänglich war. Nur diese wenigen Auserwählten kannten die kultischen Handlungen und geheimen Riten – das Volk oder die einfacheren Priester blieben außen vor.
Im Gegensatz dazu, war Aton für jedermann sichtbar, denn die Sonnenscheibe stand jeden Tag am Himmel, alle konnten sie anbeten und an den Riten teilhaben, die Echnaton und seine Priester durchführten.
So gelang es Echnaton, zumindest für die Dauer seiner Regierungszeit, die Macht des Amun-Kultes zu begrenzen. Gänzlich auslöschen konnte er ihn jedoch nicht. In Lauerstellung verharrend, wartete die Priesterschaft auf ihren Tag der Rache.
Wie ich ja bereits ausgeführt hatte, wurde nun nicht nur Pharao mit den Segnungen des Gottes bedacht, sondern seine ganze Familie. Außerdem führte ich aus, dass die Darstellungen von Pharao und seiner Familie äußerst merkwürdig waren. Vieles spricht für die These, diese Darstellungen seien, der ägyptischen Tradition folgend, die programmatische Darstellung der Familie nach der Theologie des Aton-Kultes gewesen. Im ägyptischen Museum in Berlin findet man beispielsweise ein Abbild Echnatons, das ein normal geformtes Gesicht eines jungen Mannes zeigt – von Monstrositäten keine Spur. Und es gibt noch eine Abweichung der typischen Darstellungsweise der Armana-Epoche. Echnatons und Nofretetes Töchter werden nicht mit den armana-typischen Stilelementen gezeigt, sondern mit geradezu übertrieben groß wirkenden Köpfen.
Hier schließt sich also der Kreis, denn wie ich dir bereits berichtete, waren die Darstellungen der Kopfform, in den von mir entdeckten geheimen Tunneln, nicht nur auf die Töchter beschränkt, sondern umfassten die gesamte Familie Pharaos. Jetzt, mein lieber Thomas, kommt jener Teil, den die seriöse Wissenschaft entweder gar nicht kennt oder für kompletten Nonsens hält.
Mir gelang es, das von uns entdeckte Kompendium weitgehend zu entschlüsseln. So offen, wie sich der Aton-Kult gab, war er keinesfalls gewesen. Schließlich beweisen das allein schon die von Laura und mir entdeckten geheimen Gewölbe, die unter dem ehemaligen Achet-Aton angelegt wurden. Mir offenbarte sich etwas, das ich schon in so vielen Mythologien gefunden hatte: die Menschen der älteren Zeitalter hatten eine besondere Verbindung zu der Welt in der sie lebten. Es fehlte ihnen an moderner Technik, um unsere Art Untersuchungen anzustellen und unsere Möglichkeiten auszuschöpfen; doch gingen sie auf ganz andere Weise mit dem Sein um.
Wir wissen seit Einstein, dass Materie auch Energie ist. Dadurch wurden wieder die alten Ansichten des Idealismus interessant, Geist steht über Materie, ja Materie ist gar selbst nur eine andere Form von Geist. Der Physiker würde wohl lieber bei dem Begriff Energie bleiben. Wie auch immer, wir verdanken es Einstein, endlich Gewissheit darüber zu haben, dass die Welt, so wie wir sie wahrnehmen, nur eine Illusion ist und neben alldem, was wir wahrnehmen, Dinge bzw. Welten existieren könnten, die für uns bisher gänzlich unerreichbar sind. Doch was ich in den alten Mythen fand, lieber Thomas, stellte mein Bild vom primitiven heidnischen Glauben auf den Kopf.
Offenbar wussten sie all das, was uns erst wieder Leute wie Einstein oder Hegel klarmachten, auf irgendeine seltsame Art bereits. Wenn man Platons Ideenlehre beispielsweise liest – und der Mann lebte immerhin vor weit über zweitausend Jahren – findet man schon die ersten philosophischen Ansätze hierzu. Diese aber eher mythisch denkenden Menschen erklärten sich all das überhaupt nicht philosophisch. Sie wussten oder spürten es anscheinend. Irgendetwas zeigte ihnen Wege und Mittel mit dem uns Unbekannten, den möglichen Welten bzw. Existenzebenen, von denen auch Einstein sprach, in Kontakt zu treten. Sicher hat Einstein das etwas anders gemeint, als die Dinge, die ich beschreibe, da er ja schließlich Physiker war. Doch diese Menschen damals, die um die unheimlichsten Geheimnisse wussten, fühlten diese Existenzebenen, fühlten, alles war Illusion und Realität zugleich. Sie konnten sich nicht wie unsere heutigen Wissenschaftler ausdrücken, gab es doch noch keinen Wortschatz für so vieles. Also erschufen sie Bilder, nutzten Bezeichnungen, durch die sie sich die Dinge begreiflich machen konnten. Und so entstanden Mythologien.
Echnaton und Nofretete entdeckten das Geheimnis der Unsterblichkeit – oder besser gesagt, sie entdeckten das Geheimnis der Zeit. Sie fanden heraus, dass man durch Formen und Symbole, die man an bestimmten Punkten anbrachte, die Zeit verändern konnte. Architektur und Formen waren schließlich seit jeher im alten Ägypten von Bedeutung. Denk daran, dass im Zentrum einer Pyramide das Fleisch langsamer verdirbt also woanders. Ein Gedanke, den man in anderer Form auch in Einsteins Theorien über die Raumzeit und die Schwerkraft sowie der dadurch resultierenden Raumkrümmung findet.
Sie bauten also Achet-Aton nach bestimmten architektonischen Mustern – und im geheimen ließen sie die Gewölbe darunter bauen, die in ihrer Architektur alles ergänzten. Echnaton sah das Zeichen, welches den Hinweis gab, wo er seine Stadt zu bauen hatte. So wie nun mal die Menschen damals mehr die Kommunikation ihrer Umwelt verstanden, so verstand auch Echnaton die Bedeutung jenes Zeichens. Er und Nofretete ließen einen Ort schaffen, an dem die Zeit auf andere Weise vergeht als wir es normal gewohnt sind. Und sie beide besuchten diesen Ort, die geheimen Tunnel, regelmäßig, um sich so ihr Leben zu erhalten.
In Einsteins spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie hängen Zeit und Raum von der Bewegung und auch der Schwerkraft ab. Alles ist also entweder von der Bewegung des Betrachters oder aber von der Materie, sprich der gebündelten Energie abhängig. Dies kann dazu führen, dass Maße und Zeit eben nicht konstant sind, sondern alteriert werden. Ein Meter ist demnach nicht immer ein Meter und eine Sekunde nicht immer eine Sekunde. Davon wussten Nofretete und Echnaton natürlich nichts. Sie sahen nur die Konsequenzen ihrer Verjüngung: ihre Körper veränderten sich.
Auf ihre Zeitgenossen musste das diabolisch gewirkt haben, weshalb dann wohl auch die Amun-Priester mehr und mehr Menschen für ihre Ziele gewinnen konnten und möglicherweise Nofretete und Echnaton ermordeten. Hierzu gab es einige Stellen, die es mir leider da noch nicht zu übersetzen gelang.
Du fragst dich sicherlich, was das Ganze mit Laura und mir zu tun hat, lieber Thomas, was mich nun zu den entscheidenden Punkten führen wird.
Der Tote, den du und ich damals in jener Höhle fanden, kam aus der Zeit der Armana-Epoche und nutzte sein Wissen, um sich am Leben zu erhalten. Offenbar hatte er einen Weg gefunden, ohne ständige Besuche der Gewölbe unterhalb des ehemaligen Achet-Aton, weiterleben zu können. Viel weiter noch reichten die Konsequenzen, konnte er doch allem Anschein nach nicht auf normalem Wege getötet werden. Genauso wie bestimmte rituelle Handlungen, Symbole oder Architektur die Raumzeit von Materie – also verdichteter Energie – beeinflussen und somit das Leben verlängern konnte, war es nur möglich, durch bestimmte rituelle Handlungen und dem Herbeiführen gewisser Umstände, dieses Leben wieder auszulöschen. Deshalb wohl die kristallene Klinge mit dem mit arkanen Symbolen bestückten Griff und die Phiole, die wohl irgendeine besondere Flüssigkeit enthielt. Denn offensichtlich, die Klinge befand sich schließlich im Brustkorbbereich des Unbekannten, wurde er damit getötet; auch die zerbrochene Phiole weist darauf hin.
Zusammen mit Laura arbeitete ich weiter an der Entschlüsselung des Kompendiums. Außerdem hatte sie noch verschiedene, mit Hieroglyphen bestückte Gegenstände aus den Gewölben mitgenommen, die es zu untersuchen galt. Laura war es, die herausfand, dass die Flüssigkeit, die man, neben dem besonderen Dolch zum Töten einer auf solche Weise am Leben erhaltenen Person, benötigte, gleichwohl für die Erhaltung des Lebens zuständig sein konnte. Tatsächlich umfassten ihre Funde aus den Tunneln sogar mehrere verschlossene Goldbehälter, die ein Pulver enthielten, um diese Flüssigkeit herzustellen – wie wir durch unsere weitere Entschlüsselung der Hieroglyphen herausfanden.
Nachdem Laura und ich nun viele Jahre zusammen und auch sehr glücklich waren, fiel mir jedoch auf, dass sie nicht zu altern schien. Auch du, Thomas, hattest mich öfter darauf angesprochen, mir oft gesagt, wie glücklich ich mich schätzen könne. Doch fielen mir noch mehr Dinge auf. Laura schien irgendwelche Geheimnisse zu haben. Dies wurde immer deutlicher, wich sie doch immer mehr meinen Fragen nach ihrer augenscheinlich unbezwingbaren Schönheit aus. Außerdem befragte ich sie, wo sie aufgewachsen sei und schlug ihr vor, einmal mit ihr gemeinsam dorthin zu fahren, da ich mit Freuden den Ort ihrer Herkunft kennen lernen und sie vielleicht einige alte Bekanntschaften gerne wiederaufnehmen würde. Aber Laura wehrte sich vehement dagegen. Sie sagte, der Tod ihrer Eltern sei für sie zu schrecklich gewesen und sie wolle keinesfalls mehr an diesen Ort zurückkehren, wo sie alles an Vater und Mutter erinnerte. Auf meine nachdrücklichen Versuche, sie dazu zu bringen, es sich anders zu überlegen, reagierte sie mit aufloderndem Zorn.
Also beließ ich es dabei, denn so merkwürdig mir dies alles schien, liebte ich Laura zu sehr, um mich wegen einer solchen Lappalie mit ihr zu streiten. Ich beschloss, sie diesbezüglich in Ruhe zu lassen – die Fragen in mir blieben jedoch.
Die Zeit verging weiter und oberflächlich betrachtet, änderte sich in der Beziehung zwischen Laura und mir nichts. Dennoch spürte ich kaum wahrnehmbare Unterschiede. Unterschiede, die man leicht als Hirngespinste hätte abtun können, die mir aber in ihrer Vielzahl und Unterschwelligkeit missfielen. Ich fasste deshalb den Entschluss, allein gewisse Nachforschungen anzustellen, ohne Laura darin einzuweihen. Damit begann eine Reise der Erkenntnis, die mich heute kaum noch schlafen lässt, mein lieber Thomas.
Zunächst forschte ich weiter nach dem Kult der Unsterblichen. Immer wenn Laura nicht da war, nutzte ich die Zeit, um weiter das Kompendium und die von ihr aus den Gewölben mitgebrachten Gegenstände zu untersuchen sowie deren Symbole und Schriftzeichen zu entschlüsseln. Dabei entdeckte ich, wer der Mann, in der von dir und mir entdeckten Höhle, gewesen war.
Es war Semenchkare. Er nahm nach Nofretetes Tod – oder Verschwinden – sämtliche ihrer kultischen Funktionen wahr. Seiner Existenz war sich die Wissenschaft bisher nicht wirklich sicher. Ich wusste es nun besser. Die Hinweise, die die Ägyptologen besaßen, besagten folgendes: Prinz Semenchkare war der erste Mann in der ägyptischen Geschichte, dem nun all jene Rollen zufielen, die normalerweise Pharaos Frau vorbehalten waren. Er wurde mit einer von Echnatons Töchtern verheiratet und nach dessen Tod sein Nachfolger. Doch nach nur drei Jahren verschwanden Semenchkare sowie seine Frau von der Bildfläche der Geschichte Ägyptens.
Was zumindest aus ihm geworden war, wusste ich ja nun. Aber diese Körpermaße – wie konnte das sein? Ich erklärte es mir damit, dass auch Semenchkare über die Geheimnisse von Nofretete und Echnaton Bescheid wusste – sowie meinen Rückschlüssen bezüglich Einsteins Raum-Zeit-Gedanken. Irgendwie musste es in Zusammenhang stehen.
Aber es war weit mehr.
Meine weitere Untersuchung in den Folgejahren ergab, Semenchkare hatte das Kompendium selbst verfasst – was nun die eben erwähnten Fragen vollständig aufklärte. Auf den vorher von mir nicht dechiffrierten Abschnitten, beschrieb er, wie er nach der Tötung Echnatons, dessen Nachfolge antrat und dass er, aufgrund der Konspirationsaktivitäten der Amun-Priester, gezwungen war zu fliehen. Semenchkares Frau jedoch wurde meuchlings gemordet. Die Flucht führte ihn nach Europa, wo er ein neues Leben begann.
Semenchkare wusste offenbar noch weit mehr: Er beschrieb, Echnaton und Nofretete hätten mit Wesenheiten in Kontakt gestanden, die sie dazu brachten, jene Tempel des Aton und die Stadt mit den unterirdischen Gewölben zu bauen. Weder Nofretete noch Echnaton wären sich anfangs darüber bewusst gewesen, unter fremdem Einfluss gestanden zu haben; sie dachten einfach, sie seien einem göttlichen Geheimnis auf der Spur. Für Menschen der älteren Zeitalter war es – wie ich bereits erwähnte – wesentlich natürlicher, mit ihrer Umwelt in Kontakt zu stehen. Semenchkare forschte nach Nofretetes Verschwinden sehr intensiv. Ich weiß noch, wie merkwürdig ich es fand, dass einige Seiten herausgerissen waren, die offenbar das Verschwinden Nofretetes sowie wohl auch andere Informationen über sie betrafen.
Jedenfalls gelang es Semenchkare, durch neue Rituale innerhalb der Gewölbe sowie diversen Neuausrichtungen gewisser Kultgegenstände, seinen Geist in eine andere Welt bzw. eine andere Dimension zu transferieren. Er wurde selbst zu Energie, zu einem Beobachter der ätherischen Ebene. Eine Welt mit gänzlich anderen Naturgesetzen und Daseinsformen als wir Menschen sie uns vorzustellen vermögen. Es gäbe viele verschiedene Welten die alle parallel zu- und übereinander existieren. Innerhalb dieser verschiedenen Ebenen gäbe es Wesen, die sich all dessen bewusst seien, denen es jedoch unmöglich wäre, so wie wir sich als körperliche Bestandteile in einer dieser Welten zu manifestieren. Wohl aber besitzen sie Möglichkeiten, in unser Bewusstsein zu dringen, um so an dem körperlichen Leben teilzuhaben und es durch uns zu beeinflussen. Sie tun dies in unseren Träumen oder leiten unser Unterbewusstsein unmittelbar. Dies wird ihnen ermöglicht, weil alles aus Geist – oder Energie, wenn Du so willst – besteht. Wir sind alle Teile eines Ganzen, die sowohl mit diesem Ganzen zusammen als auch unabhängig davon funktionieren. Realitäten werden durch Wahrnehmung geschaffen, und eben jene Wahrnehmung können besagte Wesen beeinflussen, wodurch sie es sich nach und nach ermöglichen, in eine verdichtete Bewusstseinsebene – also in eine materielle, körperliche Ebene – zu gelangen.
Weiter berichtete Semenchkare, diese Wesen wären Meister darin, uns etwas zu suggerieren, unsere Sinne, die funktional an unsere Realität angepasst sind, für deren Absichten zu gebrauchen. Innerhalb dieser ätherischen – oder wenn du so willst, energieförmigen – Daseinsebene wurde Semenchkare nun klar, auf welche Weise es diesen Wesen einzig möglich war, unmittelbar in unsere Welt zu gelangen: sie mussten das Denken eines Menschen so beeinflussen, dass er die geheimen Gewölbe finden und jene unterirdische Kammer durch den Schacht betreten würde, den wohl auch ich mit Christine hinuntergeklettert war. Dort unten würden Materie, Raum und Zeit keine Bedeutung haben. Dies ermögliche ihnen, von dem Körper direkten Besitz zu ergreifen – schließlich wüssten sie, wie man Energie formt und verdichtet. Je öfter man hinuntersteigt, desto mehr bliebe die Jugend erhalten; doch umso mehr Macht gewännen die Ätherwesen über den Körper – was zu jenen seltsamen Verformungen führe, von denen ich bereits sprach.
Offenbar hatte Semenchkare einen Weg gefunden, sein Leben weiter zu erhalten, ohne immer wieder die Unterstätten Achet-Atons betreten zu müssen. Leider ging er hierauf nur so geringfügig ein, dass es keinerlei Rückschlüsse auf seine Methode zuließ. Wahrscheinlich lag dies auch in seiner Absicht, denn er berichtete davon, er wäre bereits weiter mutierten Menschen begegnet, die sich ganz eindeutig zwischen uns normalen Menschen bewegten. Auch hatte er oft das Gefühl verfolgt zu werden, weshalb er so häufig es ging seine Zelte abbrach, um eine neue Heimstatt zu finden.
Doch schien ihn etwas immer mehr zu beunruhigen – weshalb er wohl überhaupt diese Aufzeichnungen machte. Er spürte, etwas ergriff immer mehr Besitz von ihm. Es sei einer jener Ätherbewohner gewesen, der ihn, seiner Vermutung nach, von Anfang an beeinflusste und für eigene Zwecke nutzte. Nicht nur im Innern spürte er die Veränderung, auch äußerlich machten sich diese bemerkbar. Es waren genau die gleichen Veränderungen, die er damals an Nofretete, Echnaton und fast allen ihrer Kinder bemerkte. Von der Angst gepackt, sein eigenes Selbst für immer zu verlieren, fasste Semenchkare den Entschluss, seinem Leben ein Ende zu setzen. In weiser Voraussicht hatte er sämtliche dafür wichtigen Utensilien aus den geheimen Gewölben Achet-Atons mitgenommen.
Hier endeten die Aufzeichnungen.
Thomas, vermagst du dir vorzustellen, welche Art Gedanken mich von nun an beschäftigten? Grauenvolle Erwägungen kamen mir in den Sinn: Woher stammte Lauras Wissen um die andere Wirkungsweise der Flüssigkeit in der Phiole, wo doch Semenchkare weitere Ausführungen über die Lebensverlängerung vermied? Immerhin gab sie schließlich vor, den von mir nun heimlich dechiffrierten Teil selbst nicht entschlüsseln zu können. Inwieweit also mochte wohl Laura von diesen Dingen wissen? Und welche Rolle spielte sie?
Mein Vertrauen in sie schwand beträchtlich, weshalb ich beschloss, sie von jetzt an zu beobachten. Damit du, Thomas, die zeitliche Dimension begreifen kannst, muss ich dir noch sagen, dass ich diesen Entschluss vor ziemlich genau einem Jahr fasste.
Laura bemerkte nichts von meinem gewachsenen Misstrauen, gelang es mir doch, dies hervorragend zu verbergen. Außerdem war sie schließlich noch immer die aufregende Frau, die Frau, die ich so sehr liebte. Alle Distanz zu mir und ihre möglichen Geheimnisse waren zu unterschwellig und subtil, als dass sie mein Verhalten ihr gegenüber drastisch beeinflussen konnten.
In der ersten Zeit schien es, als wären meine Befürchtungen reiner Unsinn, unternahm Laura doch nichts Ungewöhnliches. Ich begann mich dafür zu schämen, dass ich an ihrer Aufrichtigkeit zweifelte und derart abstruse Vorstellungen über sie entwickelt hatte, die mich meine eigene Frau heimlich beschatten ließen.
Doch dann geschah das Unfassbare. Nachdem ich sie zwei Monate lang verfolgt und beobachtet hatte (soweit dies meine Arbeit zuließ), traf sie sich eines Nachmittags mit einem mir völlig unbekannten Mann. An sich nicht weiter aufregend, konnte es doch ein Treffen beruflicher Natur sein. Nein, es war das Aussehen dieses Mannes, was mir grauenerregende Schauer bescherte. Sein Schädel war übergroß und wies alle Charakteristika von Lauras eigenem Kopf sowie ihren Gesichtszügen in überdimensionierter Form auf. Des weiteren waren seine Oberschenkel ungewöhnlich dick, der Brustkorb schien eingefallen, sein Bauch hing schlaff herab und sein Hals war anormal lang. Obwohl ich ihn für mich als Mann identifizierte, wirkte er eigenartig geschlechtslos. Alles war genau wie in den Darstellungen der Armana-Epoche, deren Wandmalereien ich zusammen mit Christine in den unterirdischen Stätten von Achet-Aton gesehen hatte. Laura und der Unbekannte tauschten für mich nicht ersichtliche Gegenstände aus und unterhielten sich angeregt, aber anscheinend sehr emotionslos.
Nun gab es für mich keinerlei Zweifel mehr, Laura hatte ein schreckliches Geheimnis und ich war für sie Mittel zum Zweck. Was für ein Narr bin ich doch gewesen! Allein ihr Auftauchen in den Gewölben damals hätte mich stutzig machen müssen. Schließlich hatte außer mir noch nie jemand den geheimen Zugang zu den Tunneln unter dem heutigen Tell-el-Armana entdeckt. Und auch ihr umfassendes Wissen, ihre unvergängliche Jugend hätte mir Hinweis genug sein sollen. Nur allzu leicht ließ ich ihre Erklärungen zu, war ich doch durch ihre seltsame Schönheit und ihr ungewöhnliches, aufregendes Wesen vollauf in Liebe geblendet. Nun aber wollte ich mich durch nichts mehr blenden lassen.
Am darauffolgenden Tag nahm ich mir unbezahlten Urlaub. Ich wollte Laura nicht mehr aus den Augen lassen. Tatsächlich traf sie sich in der Folgezeit immer häufiger mit derartigen Gestalten. Anfangs war es schwierig für mich, sie zu unterscheiden, aber nach und nach gelang es mir, zu erkennen, dass es tatsächlich immer andere waren und nicht nur der eine, welchen ich zuerst sah. Stets wurden Gegenstände ausgetauscht, die ich inzwischen als die merkwürdigen Behälter identifizieren konnte, die jenes Pulver beherbergten, von dem Laura sagte, es diene nicht nur dem Ritus die Unsterblichkeit zu beenden, sondern auch zu deren Erhaltung. Wollten diese Ätherbewohner etwa mehr und mehr in unsere Welt gelangen? Sie hätten wohl kaum ein besseres Zeitalter wählen können, da wir heutzutage bemüht sind, Mythen für Märchen zu halten und Phänomene wie das Äußere jener abstoßenden menschlichen Kreaturen auf Krankheit zu reduzieren. Ja, wir erklären uns schließlich alles wissenschaftlich, glauben nur an das positivistisch und empirisch Belegbare. Obwohl Einstein uns die Welt als größer und undurchschaubarer aufgezeigt hat, wollen wir auch dieses Unbegreifbare, Unnennbare erst empirisch greifen können, bevor wir seine Existenz für möglich halten – dabei ist unsere Sinneswirklichkeit doch keinesfalls die einzig mögliche Wahrheit. Sämtliche alten Rituale unserer Ahnen sind vergessen oder als Unsinn abgetan. Kann es also einen besseren Zeitpunkt geben, uns zu unterwandern und uns unseres Selbst zu berauben? Ein schreckliches Grauen umfing mich bei diesem Gedanken.
Nach allem, was ich gesehen hatte, begriff ich nicht, warum eigentlich Lauras Körper von all jenen Verunzierungen verschont blieb.
Bald sollte ich es erfahren.
Ich plante eine Reise nach Ägypten, schließlich hatte ich hier genug gesehen. Noch einmal wollte ich die unterirdischen Stätten des ehemaligen Achet-Aton besuchen, um vielleicht mehr herauszufinden. Laura erzählte ich, ich hätte den Auftrag bekommen, diverse archäologische Funde des Museums in Kairo zu untersuchen. Sie schien mir dies vorbehaltlos abzunehmen. Ich war froh, ihr für eine Weile aus dem Weg gehen zu können, fiel es mir doch jetzt immer schwerer, so zu tun, als gäbe es keinerlei Seltsamkeiten zwischen ihr und mir.
Thomas, was ich bei meinem erneuten Besuch herausfand komplettierte alle Schrecken.
Ich betrat die Gewölbe und wählte diesmal Abzweigungen, die ich bei meinem ersten Besuch mit Christine ausließ. Nachdem ich durch unzählige Gänge und Räume gewandert war, stieß ich auf einen Raum, den offenbar Semenchkare angelegt hatte. Mittlerweile besaß ich viel Übung im Dechiffrieren seiner Hieroglyphen; so war es mir auch hier ein Leichtes, der Geschichte auf den Wänden zu folgen.
Nofretete wurde nicht ermordet und verschwand auch nicht grundlos. In maßlosem Ehrgeiz lenkte sie sämtliche Handlungen und Geschicke ihres Gemahls Echnaton, der selbst wohl kaum noch Macht besaß. Sie war es, die im Hintergrund die Fäden spann, damit der Aton-Kult wieder ins Leben gerufen wurde. Sie verführte Semenchkare und gebrauchte auch ihn für ihre Zwecke. Doch Semenchkare war schlauer als Echnaton. Auch er eignete sich ausreichend Wissen über den Aton-Kult an und entdeckte bald Nofretetes wirkliche Absichten. Sie strebte mithilfe von Aton – wie sie dachte – ewiges Leben sowie ewige Herrschaft an. Echnaton und auch sonst alle dienten ihr nur als Mittel, ihre Ziele zu erreichen. Nofretete glaubte in ihrer Arroganz, sie könne den Gott beherrschen; in Wahrheit benutzten die ätherischen Wesen sie nur auf sehr hinterhältige Weise: sie ließen Nofretete sich jung und unsterblich halten, ohne von ihr vollständig Besitz zu ergreifen. Auf diese Art hatten sie in ihr eine willige Helferin, die ihnen bedingungslos den Weg ebnete, selbst jedoch äußerlich unauffällig blieb und keine groben Verformungen aufwies.
Prinz Semenchkare deckte ihre Verschwörung auf und offenbarte dies alles Pharao. Echnaton befahl Nofretetes Tod, doch sie war bereits geflohen. Hierüber schien Semenchkare äußerst erstaunt, ließ er doch ihre Gemächer ständig bewachen. Nofretetes Verschwinden blieb ihm unerklärlich.
Von Echnaton und fast all seinen Kindern ergriffen die Ätherwesen jetzt immer mehr Besitz, weshalb Semenchkare sich gezwungen sah, das Todesritual des Aton zu vollziehen. Der Dolch aus dem Sternenkristall, dessen Griff die arkanen Symbole des Aton zieren, musste in die Lebensflüssigkeit getaucht und ins Herz gestoßen werden. Und so geschah es. Die Mumien von Pharao und den betroffenen Kindern wurden an geheimen Orten begraben, damit niemals jemand die Wahrheit erfahren würde.
Die Lebensflüssigkeit bestand aus einem Pulver, welches man nur in dem Geheimraum, in den ich mit Christine hinabstieg, gewinnen konnte. Hier, wo Raum und Zeit keine Bedeutung hatten, hinterließen die Ätherbewohner ein Erbe für all diejenigen, die sich in ihren Bann ziehen ließen. Mit der Verbreitung des Pulvers würde es wesentlich leichter werden, diese Welt zu besiedeln, anstatt auf die armen Seelen zu warten, die sich in die geheimen Gewölbe verirrten.
Das war also ihr Plan. Und Nofretete lebte noch – oder wieder. Sie würde die Wegbereiterin sein und die Zeit ihr Verbündeter. Ich hatte jetzt keinerlei Zweifel mehr, wer Laura in Wirklichkeit war. Es gab nur einen Weg: sie musste sterben!
Ich kehrte also nach Hause zurück und schmiedete während der Rückreise meinen Plan. Aber alles sollte anders kommen. Laura betrachtete mich bei meiner Rückkehr voller Argwohn. Ich spürte regelrecht, dass sie ahnte, was ich vorhatte. Sie war gewarnt. Doch wir verhielten uns zueinander wie zwei sich umschleichende Panther. Keiner wagte den ersten Sprung, jeder lauerte auf einen Fehler des anderen. Wir spielten uns gegenseitig eine heile Welt vor, in der Hoffnung, keiner wisse wirklich, was der andere vorhatte.
Als ich an einem Tag vor ungefähr fünf Monaten alleine zu Hause war, wollte ich die Gelegenheit wahrnehmen, etwas von dem Pulver sowie den Dolch aus unserem gemeinsamen Forschungsraum zu stehlen. Meine eigenen Träume vom ewigen Leben hatte ich längst aufgegeben. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass nichts mehr von dem Pulver zu finden war. Laura hatte alles fortgeschafft.
Der Verzweiflung nahe wusste ich, ich musste einen anderen Plan fassen, wenn ich den ihren zunichte machen wollte. So plante ich also jenen Unfall, der sie später das Leben kostete.
Mittlerweile kannte ich Lauras Rundgänge sehr genau. Am Donnerstag suchte sie immer diesen Martin auf – einer dieser schrecklich entstellten Etwasse –, dessen Name mir durch meine Beobachtungen geläufig war und der in der Nähe des baufälligen Gebäudes am Park, was das neue Rathaus werden sollte und deshalb gerade saniert wurde, auf sie wartete. Ich prüfte das Gebäude auf Herz und Nieren. Tatsächlich fand ich auf dem Vordach des gotischen Hauses eine lose Engelsstatue. Ohne einen Hebel würde sie sich jedoch nicht bewegen lassen. Außerdem bräuchte es ein exaktes Timing, um sie punktgenau auf Laura landen zu lassen. Da mir keine Wahl blieb, außer einen offenen Kampf mit Laura zu riskieren, entschied ich, es mit dem wahnwitzigen Anschlag zu versuchen.
Der besagte Donnerstagabend dräute und ich wartete lauernd mit meinem Eisenhebel hinter der Engelsstatue auf dem Vordach des baufälligen Hauses am Park. Die Straße war zum Glück menschenleer. Und da sah ich sie. Laura schritt die Straße entlang. Jeder Augenblick zog sich nun quälend lang dahin. Endlich erreichte Laura die Markierung, die ich gemacht hatte – die Stelle, von der aus sie bei normaler Schrittgeschwindigkeit, den von mir zuvor berechneten Aufschlagpunkt der Statue in dem Moment erreichen musste, wenn diese aufschlug. Jetzt galt es den Engel von seinem Podest hebeln. Und ich tat es. Der Engel fiel – fiel genau auf Laura. Von oben war nur noch die Statue und ein größer werdender dunkelroter Fleck zu sehen. Ich hatte es geschafft. Niemand hatte mich gesehen und vorsichtig stieg ich von dem Vordach zurück in den Hausgang, um erst über das Treppenhaus, dann über die Hintertür zu verschwinden. Jetzt brauchte ich nur noch warten, bis mir die Polizei die schreckliche Nachricht überbrachte.
Zu meinem Glück schien es für die Polizei ausgeschlossen, dass Lauras Tod auch nur irgendetwas anderes als ein tragischer Unfall gewesen sein konnte. Schließlich gab es keinerlei Feinde oder Motive.
Doch ich wusste, eine Arbeit war noch zu tun. Jedwedes mögliche Weiterleben von Laura musste verhindert werden. Zwar hatte ich das Pulver nicht zur Hand, aber ich hatte den Dolch. Die Beerdigung musste nun so schnell wie möglich in die Wege geleitet werden, damit ich ihr den Dolch ins Herz stoßen konnte. Ob das reichen würde, wusste ich nicht, aber ich musste es versuchen.
So ging ich in der Nacht nach der Beerdigung auf den Friedhof, um meine Arbeit zu vollenden. Ich grub in großer Hast, erreichte schließlich den Sargdeckel und sprang in das Grab hinab. Schnell löste ich die Verriegelung und riss den Deckel nach oben. Laura sah entsetzlich entstellt aus. Trotz all meiner Angst und dass ich darum wusste, das Richtige getan zu haben, brach ich in heftige Tränen aus. Ich liebte sie – dieses Ding – noch immer. Alles war so widersprüchlich, so unwirklich. Warum nur passierte all das? Ich fasste mich wieder, hob den Dolch und stieß ihn in die Brust des leblosen Körpers meiner Laura.
Da geschah das unfassbar Grauenvolle.
Vor meinen Augen verwandelte sich Laura in eine breiige, grün-gelbe Masse, die sich innerhalb von Sekunden in Nichts verflüchtigte. So ging sie dahin, mein Ein und Alles, mein Licht, der Grund meines Daseins …
Bitterlich weinend verharrte ich weiter in dem Sarg. Es würde bald dämmern, bemerkte ich. Keine Zeit mehr, um zu trauern. In ebenso großer Hast, wie ich den Sarg freigegraben hatte, begrub ich ihn nun wieder. Nach getaner Arbeit flüchtete ich nach Hause, um mich ganz meinem Kummer hinzugeben.
Mein lieber Thomas, nun weißt du, warum ich dich nicht mehr besuchen kam und mich nicht mehr regelmäßig bei dir meldete. Zu schrecklich und zu schmerzvoll war all das, was ich erlebte und tun musste. Was nun mit all diesen unheimlichen, entstellten Kreaturen ist, die noch immer mitten unter uns sind, weiß ich nicht. Meine Hoffnung ist, dass sie ohne Lauras Hilfe nicht die Chance haben, echten Schaden anzurichten. Vielleicht ist es nie ihre Absicht gewesen, uns vom Angesicht dieser Welt zu fegen, denn es ist gut möglich, dass sie uns brauchen. Möglicherweise werden sie nie aufhören uns zu benutzen. Ich weiß es nicht, Thomas.
Was mir in letzter Zeit viel größere Sorge bereitet, ist die Veränderung, die seitdem mit mir vonstatten ging und noch immer vonstatten geht. Der Blick in den Spiegel verrät es mir ganz deutlich: meine Oberschenkel sind leicht dicker geworden und besonders mein Schädel scheint sich zu verformen. Es geht etwas mit mir vor, Thomas – wenn auch offenbar schleichend langsam. Ich habe große Angst, weil ich weiß, es gibt kein Entrinnen. Immer wieder höre ich Lauras Stimme in meinem Kopf. Überall sehe ich sie: an Straßenecken, in der Wohnung, in meinen Träumen und auf der Arbeit. Sie ist stets nur kurz zu sehen; aber wenn ich konzentriert auf die Stelle schaue, wo sie stand, ist dort nichts mehr. Ich weiß, sie ergreift Besitz von mir – oder etwas ergreift in ihrer Gestalt Besitz von mir. Mein letzter Ausweg wird allein der Tod sein. Doch ich brauche das Pulver, sonst wird Laura, oder was es auch immer ist, wieder einen neuen Wirt finden. Keinesfalls werde ich es zulassen, dass ich dieser Wirt sein werde.
Ich werde nochmals nach Ägypten reisen müssen, um in den Schacht hinabzusteigen. Nur dort habe ich noch eine Chance das Pulver zu bergen. Außerdem plane ich, die unteren Stätten des Aton in die Luft zu sprengen. Also werde ich mir, sobald ich in Tell-el-Armana angekommen bin, ausreichend Dynamit besorgen.
Mehr möchte ich dir heute nicht schreiben, lieber Thomas – mein Freund und langjähriger Weggefährte. Ich weiß nicht mehr, ob ich wahnsinnig bin oder ob wir Menschen bisher einfach nur vollkommen blind dem gegenüber gewesen sind, was um uns herum passiert. Doch ich möchte dich nicht mehr beunruhigen als nötig, als du es vielleicht jetzt ohnehin schon bist.
Sobald ich wieder zurück bin, werde ich dir alles berichten, dich wissen lassen, ob alles gut gegangen ist. Entweder stellt sich heraus, dass ich den Verstand verloren habe oder aber du wirst mich bald begraben müssen.
Sollte ich es nicht schaffen, mein Freund, und tatsächlich bei Verstand sein, ist es an dir, diese Angelegenheit zu regeln. Wenn ich recht habe, bin ich bereits verloren. Du aber, mein lieber Thomas, musst mir dann Glauben schenken.
Hoffe und bete mit mir, ich möge wirklich meinen Verstand verloren haben.
Herzlichst,
Dein Edgar
Nun wissen Sie, was mich in absolute Beunruhigung stürzte. Mein Freund Edgar hatte seine Laura selbst getötet. Nicht nur das, er hatte unzählige, grauenvolle Geheimnisse, die er nie mit mir geteilt hatte und die ihn anscheinend bis in den Wahnsinn getrieben hatten …
Ich wusste nicht mehr, was ich denken oder tun sollte. Hatte Edgar wirklich den Verstand verloren, oder war all das düstere Wirklichkeit?! Ich verstand zuwenig von diesen Dingen, um mir wirklich ein Urteil bilden zu können.
Nachdem Verwirrung und Verstörtheit teilweise gewichen waren, versuchte ich Edgar telefonisch zu erreichen. Niemand nahm das Telefon ab. Ich versuchte es auf Edgars Arbeitstelle, rief seinen Vorgesetzten im Museum an. Dieser teilte mir mit, Edgar wäre ihm schon seit Wochen seltsam vorgekommen und hätte darum gebeten, eine Forschungsreise nach Ägypten unternehmen zu dürfen, weil er angeblich einer heißen Sache auf der Spur wäre. Auf mein Nachfragen teilte mir der Direktor weiterhin mit, Edgars Abflug sei bereits vorgestern gewesen.
Also hatte ich keine Wahl, ich musste abwarten, was passieren würde.
Fünf Wochen in Höllenqualen dauerte es, bis eines Dienstagabends mein Telefon klingelte. Hastig hob ich den Hörer ab, aber am anderen Ende sprach niemand. Mehrere Male ließ ich ein Hallo und ein Bist du es, Edgar? erklingen.
Niemand antwortete. Nur ein schwaches Atmen war zu vernehmen. Doch plötzlich ein Stöhnen. Es war, wie wenn jemand unter größter Anstrengung versucht zu sprechen. Unverständliches Röcheln. Dann endlich erklang die Stimme meines Freundes – zu einer abstoßenden Kakophonie des Grauens verzerrt –, die in einem einzigen kurzen Wortschwall hervorbrach: »Tho … maaasss, kooomm … schnn … eeell … töö … ö …teee …«. Hier brach die Stimme ab und nur noch ein Tuten war in der Leitung zu hören.
Ich zögerte nicht lange, rannte unter schlimmsten Vorahnungen aus meiner Wohnung, hinaus auf die Straße und diese dann hinunter, da mein Freund unweit von mir wohnte. Mit wild klopfendem Herzen erreichte ich sein Haus. Die Tür stand weit offen. Ich stürzte hinein, laut nach meinem Freund rufend. Da – von oben hörte ich polternde Geräusche. Panikartig erklomm ich die Stufen. Oben angekommen, ertönten aus Edgars Schlafzimmer unwirkliche Laute, die von keinem menschlichen Wesen stammen konnten. Die schlimmste Angst, die ich je verspürt hatte, durchflutete mich, doch ich stieß die Schlafzimmertür auf und betrat das Zimmer.
Dort sah ich das Unfassbare!
Da lag mein Freund. Er war entsetzlich entstellt. Der Kopf überdimensional groß, ein Hals, derart lang als besäße er die doppelte Anzahl an Nackenwirbeln, Rumpf und Körper in unmenschlichen Dimensionen und Oberschenkel, dick wie die eines Elefanten. Das Schlimmste aber war sein Gesicht. Eine schreckliche Fratze starrte mich an; die Augen nur noch schmale, viel zu breite Schlitze, die Lippen und Wangenknochen bis ins Unbegreifliche vergrößert … Es war ein fürchterlicher Anblick. Edgar versuchte mir etwas zu sagen, aber er brachte nur unkenntliche Zischlaute hervor. Er schien unsagbare Schmerzen zu ertragen oder aber unter allergrößter Willensanstrengung etwas zurückzuhalten, was aus ihm hervorzubrechen drohte. Zitternd deutete er mit dem, was früher einmal sein Finger gewesen war, auf ein Stück Papier neben dem Bett.
Ich ergriff es. Offenbar war es unter großen Schmerzen und Anstrengungen geschrieben worden, da das Geschriebene extrem schwierig zu entziffern war. Dort stand zu lesen:
Thomas,
dieses Etwas hat von mir Besitz ergriffen. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Nur unter allergrößter Anstrengung gelingt es mir sie – oder was auch immer in mir ist – zurückzuhalten, um dir diese letzten Zeilen zu schreiben.
Ich habe die unterirdischen Stätten von Achet-Aton gesprengt, mir jedoch vorher natürlich das Pulver aus dem tiefen Raum geholt. Soweit ist mein Plan geglückt. Doch der Preis war hoch, denn ich gab so nochmals den Zugang zu meinem Bewusstsein auf eine Weise frei, die mich zu einem leichteren Opfer machte. Laura, oder was es auch immer sein mag, hat sich nun vollständig in mir manifestiert. Die Geschwindigkeit mit der dies geschah, war unglaublich. Ich bin froh, es noch bis hierher nach Hause geschafft zu haben. ich weiß nicht, was es ist, Thomas, wo ich doch Laura getötet zu haben glaubte. War es Laura bzw. Nofretete oder gar etwas ganz anderes…? Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur, du musst mich töten!
Thomas, bitte töte mich! Der Dolch und eine Phiole mit der Flüssigkeit liegen auf dem Bett. Du musst die Flüssigkeit über die Klinge gießen und mir diese dann ins Herz stoßen. Tue es rasch, wer weiß, wie lange ich in der Lage sein werde, Es aufzuhalten.
Ich wünsche dir alles Gute für dein Leben und dass du dies hier vergessen kannst. Ich habe immer tiefe freundschaftliche Liebe für dich empfunden. Du spendetest mir stets sehr viel Trost, mein lieber Thomas.
Leb wohl!
Dein Edgar
Flehend sah mich die Jammergestalt, die sich auf Edgars Schlafzimmerboden wälzte, aus ihren unnatürlichen Augen an. Ich zögerte noch, begriff ich doch nicht, warum das eigentlich alles ausgerechnet uns passierte. All dies konnte doch unmöglich Wirklichkeit sein.
Doch ein unmissverständlicher, drohender Laut der sich windenden Gestalt brachte mich angstvoll zurück in das Hier und Jetzt. Edgar schien nicht länger in der Lage, die Bedrohung in sich zurückzuhalten. Ich musste handeln.
Schnell übergoss ich die Klinge mit der unbekannten Flüssigkeit. Plötzlich sprang das Wesen ruckartig vom Boden auf und griff mich an. Durch unheimliche Geschwindigkeit und Kraft warf es mich rücklings auf das Bett und landete dabei auf mir. Mit aller mir zu Gebote stehenden Gewalt, stieß ich es von mir. Schon rannte es erneut auf mich zu. Dieses Mal jedoch reagierte ich blitzschnell, hob den Dolch und rammte ihn dem heranstürmenden Unnennbaren mitten ins Herz. Augenblicklich erstarrte es und fiel mit dumpfem Schlag zu Boden.
Schweißgebadet sah ich mit an, wie es sich wieder zu Edgar zurückbildete. Mein Freund lag nun tot auf dem Boden seines Schlafzimmers. Ich hatte es geschafft. Nur noch der leicht zu groß geratene Schädel zeugte von der vorigen Metamorphose.
Plötzlich schwanden mir die Sinne und ich fiel in Ohnmacht.
Als ich wieder erwachte, lag ich anscheinend auf dem Bett einer Gefängniszelle. Ich erinnerte mich noch, fortwährend von Laura geträumt zu haben. Seltsam, dachte ich, was tat ich hier? Ich beschloss, Krach zu schlagen, um einen Wärter auf mich aufmerksam zu machen, den ich befragen könnte. Es dauerte nicht lange, da ging mein Plan auf. Langsam schob sich die Klappe des Sichtfensters zu meiner Zelle auf und ein rundliches Gesicht starrte hinein.
Was dann folgte war derart unbegreiflich und grauenvoll, dass ich kaum wage, es aufzuschreiben.
Der Wärter erklärte mir, ich hätte meinen besten Freund Edgar umgebracht und wäre daraufhin wohl in Ohnmacht gefallen. Ich befragte ihn, ob denn der Brief meines Freundes auch gefunden worden wäre, was er verneinte. Auf die Frage hin, wo ich mich befände, antwortete er, ich sei in einer Nervenheilanstalt, wohin ich aufgrund des Gerichtsurteils überführt worden wäre.
Langsam kamen meine Erinnerungen wieder. Für einen kurzen Moment waren mir die letzten acht Wochen entfallen. Oder hatte ich bloß alles verdrängt …?
Ja, das Gerichtsverfahren …
Ich erzählte vor Gericht die ganze Geschichte, erzählte alles, was mir Edgar in seinem Brief geschrieben hatte, bat sogar meinen Anwalt den Brief vorzulegen; doch war der Brief nicht mehr aufzufinden. Auch von Laura berichtete ich, fragte, ob man ihr Grab untersucht hätte. Aber mir wurde erwidert, es hätte nie eine Laura gegeben. Der Richter erklärte, der Gerichtspsychologe hätte bei mir eine starke Schizophrenie diagnostiziert, wodurch ich wohl unter extremen Wahnvorstellungen litt. Den Erklärungen zufolge hätte ich die Frau meines Freundes Edgar nur erfunden und in meinen Ausfällen selbst gespielt. In meiner Wohnung wären Frauenkleider, Schminkutensilien und mehrere Perücken gefunden worden. Des weiteren wäre, in der von mir beschriebenen Höhle – wie der Gerichtsmediziner anhand des Gebisses feststellen konnte –, das Skelett von Edgars früherer Freundin, Christine, gefunden worden. Der Staatsanwalt ging davon aus, ich hätte auch hiermit etwas zu tun, weil schließlich das Verschwinden von Christine bisher unerklärlich geblieben war. Ich sei offenbar von meinem Freund derart besessen gewesen, wollte so sehr sein wie er, dass ich aufgrund dessen und eines erblichen Gehirndefekts ein schizophrenes zweites Ich geschaffen hätte. Dieses Ich sei Laura. Auch auf mein Fragen bezüglich Edgars ungewöhnlicher Schädelform, erklärte man mir, mein bester Freund hätte an einer seltenen Knochenkrankheit gelitten, die Verformungen des Schädels und der Wirbelsäule zur Folge hätte.
Die Erinnerung traf mich wie ein Hammerschlag.
Das konnte alles unmöglich stimmen. Man fühlt doch, was Realität ist und was nicht. Wie sagte es Edgar noch in seinem Brief:
Diese Wesen hätten kaum ein besseres Zeitalter wählen können, wo wir doch heutzutage bemüht sind, Mythen für Märchen zu halten und Phänomene wie das Äußere jener abstoßenden menschlichen Kreaturen auf Krankheit zu reduzieren.
Doch konnte ich sicher sein? Bin ich geisteskrank und habe wirklich meinen besten Freund anstelle dieser fürchterlichen Kreatur getötet? Eigentlich sollte ich mir fast wünschen, dies wäre die Wahrheit, denn was wäre die Alternative?
So fasste ich den Entschluss, ich sei geisteskrank, das Gerichtsurteil gerechtfertigt und entließ den Wärter, der sogleich die Klappe wieder vor sein rundliches Gesicht schob.
Die Nacht brach herein und ich versuchte zu schlafen. Unruhig wälzte ich mich hin und her, aber es gelang mir schließlich einzuschlafen. Meine Träume brachten mich in Welten voll unbeschreibbarer Naturgesetze. Ich war ein nichtkörperliches Wesen und bewegte mich zwischen den Sphären.
Mit einem Mal tauchte Laura vor mir auf. Sie lachte ein markerschütterndes Lachen, das grauenvoll ins tiefste Innere meiner Seele drang. »Du gehörst mir, kleiner Thomas. Dachtest du wirklich, du oder Edgar wären in der Lage uns aufzuhalten? Wir, die wir seit Äonen in Ewigkeit existieren? Ihr hattet ja beide keine Ahnung.«
Lauras Worte ließen mich sofort aus meinem Schlaf hochschrecken. Schweratmend und schweißgebadet schlug ich meine Bettdecke zurück. Es war dunkel. Ich tastete nach dem Lichtschalter neben meinem Bett. Endlich fand ich ihn. Der Raum erstrahlte im künstlichen Licht der Deckenlampe.
In der Tür sah ich, zu meinem erneuten Schrecken, Laura stehen, die wieder höhnend lachte. »In fünf Tagen, lieber Thomas wird es dir wie Edgar ergehen. Und es wird keiner da sein, der dich erlöst. Dann endlich werde ich meine Pläne weiter ausführen können. Die Menschheit ist wie geschaffen für uns.«
Dann verschwand sie und ich blieb in bebender Angst zurück.
In fünf Tagen also wird sie mich holen.
Bin ich verrückt? Haben die Psychologen recht und ich bilde mir all das ein? Oder wird mich in fünf Tagen ein schreckliches Schicksal ereilen und der Menschen Bewusstsein weiterhin manipulieren? Schließlich behaupteten sämtliche von Edgars Freunden vor Gericht, eine Laura hätte nie existiert.
Wie meine weiteren vier Tage verliefen, berichtete ich Ihnen ja bereits zu Anfang meiner Erzählung. Morgen soll es also soweit sein, Laura wird mein Selbst in Besitz nehmen. Noch immer hoffe ich, verrückt zu sein. Doch ich weiß es besser. Denn wie war es sonst zu erklären, dass Christines Skelett in jener Höhle lag, die Edgar und ich als Kinder entdeckt hatten? Für mich war das der Beweis, dass Christine von Laura ersetzt wurde. Seit Jahren oder Jahrhunderten – seit ihr Semenchkare entkommen war – lauerte sie in den Gewölben Achet-Atons auf jemanden, dessen Leben sie gegen das ihre eintauschen konnte. Im Gegensatz zu Semenchkare habe ich nun begriffen, dass man – einmal mit diesen Wesen auf irgendeine Art in Berührung gekommen – nicht mehr entfliehen kann, ob man in den unterirdischen Gewölben gewesen ist oder nicht. Ein Besuch der Gewölbe – der Brutstätte – mag den Vorgang beschleunigen, doch der bloße Kontakt mit einem Infizierten (so muss man wohl in diesem Zusammenhang sagen) reicht aus, um den Virus zu übertragen. Jetzt verstehe ich auch, warum sich Lauras Leichnam auf so furchtbare Weise zersetzt hatte, Edgars hingegen jedoch nicht. Er hatte bei ihr zwar den Dolch, aber nicht die notwendige Flüssigkeit benutzt. Sie – oder als was man dieses Ding bezeichnen mag – behielt die Kontrolle über die Materie und blieb unserer Welt als ein Phantom erhalten.
Deshalb, meine lieben Mitmenschen, habe ich meine Geschichte aufgezeichnet, in der vagen Hoffnung – falls ich tatsächlich nicht mehr der sein werde, der ich bin –, dass Sie meine Warnungen ernst nehmen.
Morgen werde ich es wissen.
Ende
© Sascha Besier
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